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Links die rekonstruierte Fassade des Berliner Stadtschlosses, Sitz des künftigen Humboldt Forums – und rechts die moderne Ostfassade.

© Kitty Kleist-Heinrich

Silvester 2018: Nur ein Jahreswechsel – oder eine Zeitenwende?

Es scheint ständig so, als gehe etwas zu Ende: Ungewissheit und Ambivalenz bestimmen nicht nur an Silvester unser Zeitgefühl. Zwischen Nichtmehr und Nochnicht.

Das Empfinden einer Zeitenwende geht um. Doch im Wechsel zum Jahr 2019 entspringt es diesmal nicht nur der kalendarisch symbolischen Gewohnheit. Das Gefühl der sich beschleunigenden Veränderung erfasst immer mehr Menschen – auch wenn wir uns nicht mit gleicher Geschwindigkeit schon selbst als Veränderte begreifen. Der neue Mensch ist ja noch immer eine alte Erfindung. Das gilt zumindest, so lange die Gen-Scheren und vielfach umstrittene Biotechniken nicht tiefer oder gar irreversibel in unser Werden und Dasein einschneiden.

Im Moment wachsen Ungewissheit und Ambivalenzen. Das ist ein Zeitgefühl, das sich nicht auf soziale, politische, kulturelle Eliten, nicht auf berufsnotorische Hell- oder Schwarzseher beschränkt.

In Deutschland zum Beispiel, wo einst der moderne Verbrennungsmotor erfunden wurde, weiß oder ahnt heute jeder Autofahrer, dass er mit seinem Benziner oder Diesel eben jetzt in die Zielgerade einer Epoche fährt. Dieses Bewusstsein war trotz jahrzehntealter Diskussionen um Klimawandel und Energiewende bisher eher abstrakt. Aber das Jahr 2018 hat mit seinen verschärften Dieseldebatten, Feinstaubmessungen, Gerichtsurteilen, EU-Vorgaben eine Zäsur markiert. Das hat am Ende sogar die Kanzlerin verstanden.

Fortschritt und Diktatur

Wir leben inzwischen immer zwiespältiger und doppeldeutiger. Analog und digital, zur selben Zeit. Die natürliche Intelligenz schafft sich ihre künstliche Schwester, und manche fürchten die KI schon als künftige Übermutter. Noch folgt der Westen im Großen und Ganzen, von Hollywood bis zum Pop, von Google bis Facebook, dem American Way of Life. Aber begonnen hat längst auch das asiatische, das chinesische Zeitalter. Nicht in der Kultur, doch in Wirtschaft und Machtpolitik.

China legt seine neue Seidenstraße um den Globus, kolonisiert die Rohstoffe Afrikas, besitzt See- und Flughäfen in Europa, investiert unvorstellbare Summen in Zukunftstechnologien sowie die völlige digitale und somit politische Überwachung des eigenen Reichs. Fortschritt und Diktatur gehen da eine unheimliche, derart einmalige Verbindung ein.

Vielen erscheint das selbst aus der wachsenden Nähe noch ziemlich fern. Wie in unseren vermeintlich so gemäßigten mitteleuropäischen Breiten lange Zeit auch die Erderwärmung. Im gerade vergangenen Sommer aber ist sie aus der Statistik der Klimaforscher plötzlich in die fühlbare Realität geraten. Dieser Supersommer war wunderschön – für Sonnenbader, planschende Kinder, Biergärten, Weinbauern, Tourismusbetriebe. Für einen Teil der Land- und Wasserwirtschaft wurde der Traum indes zum Albtraum. Das Schöne war ein Spiegel der Unheimlichkeit, die Sonne das Biest.

Menschen als Verkörperungen ihrer Widersprüche

Umbrüche, Zeitenwenden bilden sich in ihren Ambivalenzen nicht zuletzt auf der kulturellen Bühne ab. Die Kunst handelt im Grunde von nichts anderem als von Brüchen, Rissen, Dramen und von Menschen als Verkörperungen ihrer Widersprüche. Zwischen Liebe und Hass. Krieg und Frieden. Furcht und Hoffnung. Wir sind, ob wir’s wollen oder nicht, die Eltern und Kinder der Globalisierung, brauchen aber als Ahnung von Heimat und Selbstgewissheit auch die Verwurzelung im Lokalen; wir sind digitalaffine Analogwesen und taumeln, tanzen, hüpfen im Zeitenwendemodus zwischen Nichtmehr und Nochnicht. Das spiegelt sich auch in den herausragenden kulturellen Projekten des kommenden Jahres.

Ein Jubiläum 2019 heißt „100 Jahre Bauhaus“. Doch der größte Hausbau in Berlin und darüber hinaus zeigt an drei Seiten die Hülle eines Barockschlosses. Streiten also die Beschwörung einer Revolution von moderner Architektur, Stil und Lebensgefühl und ein Monument der Restauration miteinander?

Tatsächlich firmiert im Scheinschloss das Humboldt Forum, das gleichfalls ab 2019 die Widersprüche der Jetztzeit als Museum, Forschungsstätte und aktueller Versammlungsort reflektieren soll: vor allem mit Blick auf Alexander von Humboldt, der vor 250 Jahren geboren wurde. Er begründete als Fernreisender und Wissenschaftler wie kaum ein anderer das globale, globalisierte Denken. Berlin war für ihn dabei der Ausgangspunkt und Endpunkt, doch nicht sein Zentrum. Das war die Welt.

„Metamorphose der Welt“

Als Humboldt 1859 starb, hatte der genau 50 Jahre jüngere Apotheker Theodor Fontane gerade seine literarische Laufbahn begonnen. 2019 ist mit seinem 200. Geburtstag auch das Fontane-Jahr. Zur Erinnerung an einen im Geist europäisch-universellen Erzähler, der zugleich der eigenen Provinz, dem Berlin-Brandenburgischen, weitgehend verhaftet blieb. Neuzeitlich gesagt, war er ein Glokaler. Wie die meisten Menschen, bis heute.

Der am Neujahrstag 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck hat von der modernen „Risikogesellschaft“ bis hin zur „Metamorphose der Welt“ eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ beschrieben. In unserer Gegenwart lebten laut Beck der lokalpatriotische, gegenüber Fremdem und Neuem argwöhnische Neandertaler und der globale „homo cosmopoliticus“ nebeneinander. Das erklärt, ob in Europa, den USA oder Asien, viele Konflikte. Doch vermutlich tragen wir diese beiden Ungleichzeitigen auch in uns selbst. Darum schauen wir an jeder Zeitenschwelle zurück nach vorne. Mit allen Irrtümern, Hoffnungen, Chancen.

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