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Ostanatolien: Zum Ende aller Feindschaft

Eine ostanatolische Stadt stellt sich ihrer Geschichte: Die Bewohner von Van heißen Armenier willkommen – heute gibt es einen Gottesdienst.

Die Kinder wüssten nichts davon, sagt Fevzi Celiktas und schließt die Türe; sie hätten ihnen nie davon erzählt. Der schnurrbärtige Kurde, in schwarze Jeans und schwarzes Hemd gekleidet, macht einen letzten Kontrollgang durch sein Sommerhaus in Selimbey am Stadtrand von Van, das die Familie in diesem Jahr vorzeitig geräumt hat. Ein Schlafzimmer mit weiß bezogenen Betten, ein Wohnzimmer mit zwei knallroten Schlafsofas, Küche und Bad – alles ist tadellos aufgeräumt und geputzt für die Gäste, die sich hier wie zu Hause fühlen sollen. „Die Kinder wissen nur, dass Gäste kommen - Menschen, die früher einmal hier gelebt haben“, sagt Fevzi Celiktas und hebt seine Jüngste, die zweijährige Zeynep, auf den Arm. „Wir erzählen ihnen nichts davon, dass wir uns einmal gegenseitig aufgehängt und abgeschlachtet haben.“

Unter den Apfelbäumen im Garten toben die älteren Kinder herum, kaum weniger aufgekratzt als die Hühner, die dort herumlaufen – denn natürlich wissen sie mehr, als ihre Eltern denken. Der zwölfjährige Cenk ist atemlos vor Aufregung: Iraner hat er schon gesehen, aber noch nie einen Armenier. Und der 15jährige Erol ist längst im Bilde: „In der Politik reden sie von Völkermord“, sagt der schlaksige Gymnasiast. „Soviel ich mitbekommen habe, beschuldigen sich beide Völker gegenseitig: Die Türken beschuldigen die Armenier, und die Armenier sagen, die Türken waren es.“ Seine Mutter Hatice zupft nervös an ihrem schwarzen Kopftuch. Auch sie ist noch nie einem Armenier begegnet, doch nun räumt sie Heim und Herd für die unbekannten Gäste aus Armenien und der armenischen Diaspora, die zu Tausenden in Van erwartet werden.

Auf einem winzigen Zettel, der Rückseite einer Visitenkarte, hat Aziz Aykac die aktuelle Zahl der Familien in Van notiert, die armenische Besucher bei sich aufnehmen möchten. In seiner stickigen Redaktionsstube in der Innenstadt von Van fummelt der weißhaarige Chefredakteur der Lokalzeitung „Sehri-Van“ den Zettel aus der Brusttasche seines Anzugs, rückt die dicke Brille zurecht und liest die Zahlen vor: 1078 Familien haben sich bisher gemeldet auf den Aufruf der Zeitung: „Lasst uns den Armeniern unsere Häuser öffnen.“ Insgesamt 5213 Betten bieten sie den Besuchern an, mehr als voraussichtlich benötigt werden.

Genau weiß zwar niemand, wieviele Besucher zu dem Gottesdienst in der armenischen Heilig-Kreuz-Kirche von Van am 19. September anreisen werden – dem ersten armenischen Gottesdienst hier seit fast hundert Jahren. Die Behörden rechnen aber mit vier- bis fünftausend Teilnehmern, weit mehr als die Hotels und Pensionen von Van mit ihren 2200 Betten aufnehmen können. Die Bewohner der heute überwiegend kurdischen Stadt in Ostanatolien wetteifern nun darum, die Besucher möglichst komfortabel zu beherbergen. Mehr als 80 Prozent heißen die Gästezimmer-Initiative gut, ergab eine Umfrage der Zeitung. Es habe nur einer den Anfang machen müssen, sagt Aziz Aykac, dessen eigener Vater – obgleich Kurde – noch fließend Armenisch sprach und sich mit Wehmut an seine früheren Nachbarn in einem kurdisch-armenisch gemischten Stadtviertel von Van erinnerte. „Das Problem war, so hat er das erzählt, als der Krieg kam und die Russen auf Van vorrückten, da gingen über Nacht plötzlich alle aufeinander los.“

Hinter den Obstgärten von Selimbey liegen außerhalb der Neustadt von Van am türkisblauen See die Trümmer des alten Van. Totenruhe lastet auf dem Ruinenfeld. Hier ragt der Stumpf einer Moschee auf, dort eine eingestürzte Kirchenwand, mehr ist nicht übrig von der dreitausend Jahre alten Kulturstadt. Unfassbar, dass dieses Trümmerfeld vor hundert Jahren noch eine lebendige Stadt mit hunderttausenden Einwohnern war - von vielen Stätten der Antike ist heute noch mehr übrig als vom alten Van, das 1915 in Blut und Flammen unterging. Selten habe er einen so erbitterten Kampf gesehen wie bei der osmanischen Niederschlagung des armenischen Aufstands von Van, berichtete der venezuelanische Offizier Rafael de Nogales, der im Dienste der osmanischen Armee dabei war und sich später als „einzigen Christen“ beschrieb, der die Massaker an den Armeniern von Amts wegen miterlebte.

Ikram Kali schlüpft durch eine Lücke im Maschendraht in das eingezäunte Ruinenfeld. „Hier war ein armenisches Viertel, dort waren moslemische Viertel“, ruft er von einem Schutthügel herab und schwenkt den ausgestreckten Arm über das kahle Trümmerfeld. „Sehen Sie, das ist die damalige Moschee, das da sind Überreste einer Kirche. Wieviel Meter werden das wohl sein dazwischen? Höchstens zwanzig Meter sind das doch.“ Kali lässt den Arm sinken und breitet die Hände aus: „So nah waren wir uns früher, so nah waren sich unsere Gotteshäuser. So war das alte Van.“

Kali ist Vorsitzender eines Geschichtsvereins in Van, der sich mit den Jahren zwischen 1915 und 1920 beschäftigt – der Zeit, in der das alte Van unterging. Anders als im übrigen Anatolien, wo eine wehrlose armenische Zivilbevölkerung ohne Provokation massakriert und vertrieben wurde, hat es in und um Van damals tatsächlich Opfer auf beiden Seiten gegeben. Hier an der Ostfront zwischen russischen und osmanischen Truppen waren armenische Partisanen aktiv, hier machten Armenier fast die Hälfte der Bevölkerung aus, hier steckten sie nicht nur ein von Türken und Kurden, sondern teilten auch aus.

Kalis Geschichtsverein sammelt die Schicksalsgeschichten der türkischen Opfer, zeichnet die Erinnerungen der letzten Zeitzeugen an die Bluttaten auf, die Armenier damals an den moslemischen Nachbarn verübten. „Verein der Opfer der Massaker der armenischen Partisanen im Ersten Weltkrieg“ hieß die Gruppe jahrelang, doch vor zwei Jahren sei ihm aufgegangen, wie revanchistisch sich das anhöre, erzählt Kali und bleibt an den Überresten einer Kirchenmauer stehen. Einstimmig hat sich der Verein inzwischen umbenannt in „Verein zur Erforschung der Kultur und Geschichte von Van“. Dem erwarteten Ansturm armenischer Besucher sehen seine Mitglieder mit Spannung und Hoffnung entgegen. „1915 haben wir alle furchtbares Leid erlebt, doch vorher haben wir hier jahrhundertelang zusammengelebt“, sagt Kali. „Vielleicht bietet dieses Ereignis jetzt die Chance, eine gemeinsame Sprache zu finden, um das Leid zu beschreiben.“

Auch auf Facebook sprudeln die Erinnerungen an die Armenier von Van, seit der Gottesdienst genehmigt wurde. „Von meiner Großmutter weiß ich, dass sie um die Armenier getrauert hat, sie hat bei dem Thema immer geweint“, hat ein Besucher bei einer Facebook-Gruppe notiert, die „Wir begrüßen am 19. September unsere armenischen Nachbarn in Van“ heißt und mehr als 800 Mitgliedern hat. „Die Armenier haben uns Kunst, Handwerk und Handel gelehrt, wir aber haben sie fortgejagt“, schreibt ein anderer.

Mustafa Aladag hat die Facebook-Gruppe gegründet, ein beleibter Rechtsanwalt aus Van, von dem auch die ursprüngliche Idee zu der Gästezimmer-Initiative stammt. Anders als die meisten seiner Mitbürger schleicht der massige Mann nicht auf Zehenspitzen um das Wort „Völkermord“ herum. „Ein durchschnittlicher Kurde in Van wird ihnen auf die Frage nach den Armeniern sagen können: ‚Mein Großvater hat fünf Armenier getötet’ oder ‚meine Großmutter war Armenierin’ oder ‚mein Feld hat früher Armeniern gehört’ oder ‚dieser Mann da im Nachbardorf, dessen Großvater hat damals zehn Armenier mit einer Kugel erschossen, nur um das auszuprobieren’ oder ähnliche Geschichten“, sagt Aladag. „Die meisten Kurden wissen von dem Völkermord an den Armeniern und erkennen ihn auch als solchen an – denn sie waren ja dabei.“

Gastfreundschaft alleine reicht dem 38jährigen deshalb nicht aus, wenn die Armenier nun kommen; seine Freunde und er haben mehr vor: Am Flughafen von Van wollen sie die Besucher begrüßen, die wegen der geschlossenen Grenze zwischen den beiden Nachbarländern einen Umweg von dreitausend Kilometern über Istanbul nehmen müssen - und zwar mit einem Transparent, das in die Geschichte eingehen dürfte, wenn sie damit durchkommen: „Es tut uns leid, dass unsere Vorfahren bei den Massakern an den Armeniern mitgemacht haben“, soll in vier Sprachen – Englisch, Türkisch, Kurdisch und Armenisch – auf dem Transparent stehen. Ein Bekannter von Aladag, dessen Großvater sieben Armenier getötet haben soll, will ein eigenes Plakat mitbringen, um sich öffentlich für seinen Großvater zu entschuldigen.

Debattiert wird im Freundeskreis freilich noch, ob die Aktion nicht auch nach hinten losgehen könnte, räumt Aladag ein: ob sie im Ergebnis dazu führen könnte, dass künftig keine Gottesdienste mehr genehmigt werden in Van. Der türkische Staat habe da ja seine Tücken, meint der kurdische Rechtsanwalt, den auch die behördliche Unterstützung für den Gottesdienst und die Gastfreundschaftskampagne nicht restlos überzeugt. „Unsere Motive sind verschieden“, distanziert er sich vom Gouverneursamt, das den Besuch organisiert. „Wir haben diese Initiative ergriffen, um hundert Jahre nach dem Völkermord zu bekunden, wie leid es uns tut, dass unsere Vorfahren das getan haben. Der Staat und seine Behörden sehen das als Tourismuskampagne.“

Unter den türkischen Fahnen in seinem mit Teppichen, Ölbildern und Ledersesseln ausgestatteten Amtsraum im Gouverneurspalais spricht Münir Karaloglu, der Statthalter Ankaras in Van, zwar tatsächlich viel vom armenischen Tourismuspotenzial. Zu Tourismusmessen in der armenischen Hauptstadt Eriwan und in Los Angeles, der inoffiziellen Hauptstadt der armenischen Diaspora, sind Abordnungen seines Amtes in diesem Jahr schon gereist, um für Van zu werben. Auch bei der Berliner Tourismusmesse ITB war der Gouverneur im März – wobei er zu seiner Empörung an die hundert Kunstschätze aus Van im Pergamon-Museum entdeckte.

Doch Karaloglu, der erst im vergangenen Jahr aus dem engeren Kreis von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach Van entsandt wurde, spricht nicht nur von Geld und Gewinn, wenn es um den Gottesdienst geht – er macht gegenüber dem „Tagesspiegel“ auch eine Aussage, die ungewöhnlich politisch ist für einen Mann in seinem Amt: „Wir wollen, dass die Beziehungen (zu Armenien) aus dem Kühlschrank kommen. Das Interesse, das diesem Gottesdienst von Türken wie Armeniern entgegengebracht wird, zeigt doch: Die politischen Probleme zwischen unseren Ländern interessieren die Bevölkerung auf beiden Seiten nicht. Vielleicht könnte ja der Druck von unten zu einer Normalisierung der Beziehungen führen. Wir hoffen, dass dieses Ereignis eine Gelegenheit dazu bietet.“

Weiche Wellen lecken an der Insel, die den Schauplatz für dieses Ereignis stellen soll: die Insel Aghtamar (türkisch: Akdamar) im Van-See vor der Stadt – einem leuchtend türkisblauen See von seifigem Wasser, der mehr als zehnmal so groß ist wie der Bodensee. Die über tausendjährige Heilig-Kreuz-Kirche auf dieser Insel gehört zu den bekanntesten Fotomotiven der Türkei, war aber nach hundertjährigem Verfall zur Jahrtausendwende dem Einsturz nahe. Dass es sie überhaupt noch gibt, ist dem Schriftsteller Yasar Kemal zu verdanken, der als angehender Kolumnist der Zeitung „Cumhuriyet“ im Jahr 1951 den geplanten Abriss verhinderte. Von der religionsfreundlicheren Regierung Erdogan seit dem Jahr 2005 restauriert, wurde die Kirche im Frühjahr 2007 wieder eröffnet – aber nur als Denkmal.

„Könnten wir nicht einmal im Jahr hier einen Gottesdienst feiern“, flehte die armenische Gemeinde der Türkei, die heute nur noch in Istanbul existiert, damals die Behörden an. Doch ihre Bitten blieben unerhört – bis nun der neue Mann aus Ankara sein Amt im Gouverneurspalais von Van antrat. Die Freudenbotschaft, dass in der Heilig-Kreuz-Kirche künftig alljährlich im September ein armenischer Gottesdienst gefeiert werde darf, bedeutet für die in aller Welt verstreuten Nachfahren der Armenier von Van ein sehnsüchtig erwartetes Signal der Hoffnung: Zumindest für einen Tag, ein Wochenende, eine Woche werden sie nun zurückkehren können in die Heimat, aus der ihre Großeltern so brutal vertrieben wurden.

Am Ufer, unter dem Festungshügel beim alten Van, liegt ein Skelett auf dem Rücken und blickt mit leeren Augenhöhlen in den sonnigen Himmel. Ein Grabungshelfer pinselt Erdreste von dem Schädel und häuft ein paar lose Knöchelchen daneben auf, bevor er seine Fotos macht. Anfang des 19. Jahrhunderts, schätzt Bülenc Genc, der Archäologie-Student aus Istanbul, der an diesem Abschnitt die Aufsicht führt; ob Christ oder Moslem, das würden erst die Untersuchungen ergeben. „Die liegen hier seit dem Mittelalter schichtweise übereinander“, berichtet der Archäologe, der wie für eine Filmrolle einen breitkrempigen Hut trägt und den Arm geschient hat, weil er in einen Graben gestürzt ist. „Eine Schicht Christen, eine Schicht Moslems, und immer so weiter.“

In Selimbey, nur ein paar hundert Meter von der Grabungsstätte entfernt, schließt Fevzi Celiktas sein Sommerhaus ab und entlässt die kleine Zeynep zu ihren Geschwistern in den Obstgarten. Unter den Apfelbäumen ringt der kurdische Kaufmann um eine Erklärung dafür, warum er sein Heim wildfremden Menschen öffnen will – noch dazu Menschen aus einem Land, mit denen sein eigener Staat nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhält. „Diese alte Feindschaft lastet auf mir, sie soll endlich enden“, sagt er schließlich. „Ich empfinde sie als Schande.“

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