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Politik: Politik contra Recht

Die Parteien wollen Neuwahlen – aber sie könnten damit vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern

Berlin - Spätestens mit der Ankündigung kleiner Parteien, in jedem Fall gegen eine möglich Neuwahl klagen zu wollen, steht fest, wer über den Fortgang der Legislaturperiode das letzte Wort haben wird: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Klagebefugt sind ÖDP und Republikaner. Der Verfassungsartikel 21 stattet Parteien mit eigenen Rechten aus, deren Verletzung in einem so genannten Organstreit gerügt werden können. Machen die Parteien keinen formalen Fehler, muss das Gericht darüber entscheiden.

Ob die Klage allerdings auch tatsächlich begründet ist und damit Erfolg hat, steht auf einem anderen Blatt. Die ÖDP hatte angegeben, noch Unterschriften sammeln zu müssen, um bei den Wahlen im September überhaupt antreten zu können. Mit dem Status als Partei ergibt sich aus der Verfassung jedoch nicht automatisch das Recht auf Zulassung zu einer aktuell anstehenden Bundestagswahl. Und den Nachteil – wenig Zeit zur Vorbereitung, ein kurzer Wahlkampf – haben alle Parteien gleichermaßen zu tragen.

Aussichtsreicher ist da schon der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, der als Mandatsträger ebenfalls eigene Rechte geltend machen kann. Er droht schon seit längerem mit Klage. Wie seinerzeit, als Abgeordnete gegen die 1983 von Bundespräsident Karl Carstens verfügte Parlamentsauflösung vorgingen, könnte auch er den Präsidenten vor Gericht zu seinem Gegner machen.

Horst Köhler muss also zusehen, dass er seine Entscheidung verfassungsfest macht. Jede Stufe – der Antrag des Kanzlers, die Abstimmung des Bundestags, schließlich die Entscheidung Köhlers selbst – ist theoretisch justiziabel. Löst Köhler das Parlament auf, erklärt er auch das Handeln von Kanzler und Parlament für verfassungskonform. Sollte das Bundesverfassungsgericht später anderer Meinung sein, steckt Köhler in der Bredouille. Karl Carstens hatte deshalb deutlich gemacht, er würde zurücktreten, sollte das Gericht gegen ihn entscheiden. Dieser Druck lastet jetzt auch auf Horst Köhler. Zwar geben Präsidenten häufiger ihren Segen für ein Gesetz, das sich später als Verfassungsbruch herausstellt. Hier aber handelt es sich nicht nur um ein Gesetz, sondern um eine „politische Leitentscheidung“ des Staatsoberhaupts, wie die Karlsruher Richter es damals beschrieben.

Allerdings würde ein „Nein“ Köhlers die Situation kaum entspannen. De facto bliebe Kanzler Gerhard Schröder dann nur ein Rücktritt. Auch der führt jedoch nicht auf geradem Weg zu Neuwahlen, vielmehr müsste Köhler dem Parlament einen Kanzlerkandidaten vorschlagen. Erreicht dieser dann auch nach mehreren Wahlgängen die nötige „Mehrheit der Mitglieder des Bundestags“ (Kanzlermehrheit) nicht, so könnte Köhler ihn trotzdem ernennen – oder sich für die Parlamentsauflösung entscheiden. Carstens erklärte damals, diese Option wäre ein „sehr komplizierter Weg gewesen“. In der Tat müssten sich die Abgeordneten zuvor durch ein Szenario quälen, das es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gab: Sie müssen eine Kanzlerwahl unternehmen, obwohl schon vorab feststeht, dass es für keinen Kandidaten eine Mehrheit geben kann.

Der 1. Juli wird neben seiner Bedeutung für die politische Zukunft des Landes auch zum Tag der Beweisaufnahme für ein späteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Denn steht der parlamentarische Rückhalt für den Kanzler „außer Zweifel“, urteilte das Gericht über die Vertrauensfrage von Helmut Kohl, dürfe der Kanzler sie nicht stellen. Auch „laufende Schwierigkeiten“ rechtfertigten die Parlamentsauflösung nicht. Diese Kriterien diskutierten die Richter damals in erster Linie anhand der Äußerungen von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten aus der Aussprache unmittelbar vor der Abstimmung. Auch am Freitag wird es eine solche Aussprache geben.

1983 hatte der Bundespräsident den Bundestag am 6. Januar aufgelöst und den Termin für Neuwahlen zwei Monate später bestimmt. Am 16. Februar erklärte das Verfassungsgericht den Vorgang für in Ordnung. Diesmal könnte es noch schneller gehen, weil die Richter sich dem Urteil von damals einfach anschließen könnten. In den entscheidenden Passagen legten sie trotz vieler formeller Hürden und Einwände die Verantwortung für das Geschehen ganz in die Hände der Politik. Denn wenn die „höchste Ebene“ des Staates zu der „einhelligen Überzeugung“ gelangt sei, eine Parlamentsauflösung sei verfassungskonform, könne dies das Bundesverfassungsgericht „nicht unbeachtet lassen“.

Im Klartext: Bei der Vertrauensfrage begrenzt die Politik den Maßstab des Rechts. Und es ist nicht – wie sonst – andersherum.

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