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Putins Muskelspiele: Die Blinden sehen wieder

Rückkehr der Geopolitik: Russlands neues Selbstbewusstsein ist vor allem eine Herausforderung für Europa, das viel zu lange geglaubt hat, Interessenskonflikte bei einer Tasse Tee aus der Welt schaffen zu können. Ein Kommentar von Clemens Wergin

Berlin - Das atemberaubendste an Wladimir Putins Rede in München war nicht die Aggressivität, die aus ihr sprach. Die aus dem 19. Jahrhundert stammenden machtpolitischen Kategorien Putins sind all jenen Russlandexperten bekannt, die einigermaßen mit dem Diskurs der außenpolitischen Elite in Moskau vertraut sind. Das atemberaubendste war jedoch das Schweigen, das ihr folgte. Als hätte der ganze europäische Westen seine Zunge verschluckt blieb es einzig dem US-Verteidigungsminister vorbehalten, Putin mit ironischen Bemerkungen ein wenig die Spitze zu nehmen.

Wir haben einen ratlosen Westen erlebt in München, der seiner selbst nicht mehr sicher ist. Vielleicht wird München aber auch zur Zäsur für Europa. Die zum Teil erratischen Äußerungen deutscher Außenpolitiker nach Putins Rede, die von weltvergessen-naiver Beschwichtigung bis zum ratlosen Stottern reichten, deuten vielleicht auf ein Zusammenbrechen bisher gepflegter Weltbilder. Nennen wir es das Ende der multilateralen Illusion.

Europa: Zu lange ans Ende der Geschichte geglaubt

Noch vor einem Jahr konnte eine wichtige deutsche außenpolitische Stiftung ein Seminar über China veranstalten unter dem Titel "Rückkehr der Geopolitik?", an deren Ende fast alle internen Größen empört von sich wiesen, dass es eine Rückkehr der Geopolitik gäbe. Es zeugt von der Welfremdheit dieser außenpolitischen Klasse, nicht sehen zu wollen, was offensichtlich ist: dass unter dem dicken Kleister multilateraler Lippenbekenntnisse die Real- und Geopolitik längst ihr Comeback feiert.

Es gehört zum guten Ton in Europa, sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit lustig zu machen über die These des (Ex-)Neokons Francis Fukuyama vom Ende der Geschichte. Tatsächlich hat niemand länger an diese These geglaubt als die Europäer, die seit 1989 meinten, wir wären nun endgültig eingetreten in die Welt multilateraler Weihen, in der Konflikte von der UN gelöst werden, Kriege und Kulturkämpfe der Vergangenheit angehören und man nur mal zusammen Tee trinken müsse, wenn es nicht so läuft.

Schweigen der Blinden, die nun wieder sehen

Es war eine Welt, in der Machtpolitik ein Schimpfwort war und Interessenkonflikte nur als Missverständnisse galten, über die man einfach mal reden müsse. Es ist eine Welt, die es tatsächlich nur in der Vorstellung vieler Wohlmeinender gab. Mit dem immer härter ausgetragenen Kampf um Ressourcen, ausgelöst durch den Energie- und Rohstoffhunger Chinas und Indiens, geht diese Welt sichtbar zu Ende - nur dass das in Europa bisher niemand wahrhaben wollte. Man möchte hoffen, dass die Ratlosigkeit nach Putins Rede das Schweigen der Blinden war, die plötzlich wieder sehen konnten - und nicht das Schweigen derer, die vor Russlands neuem Machtanspruch so eingeschüchtert sind, dass sie schon vorauseilend kapituliert haben.

In Josef Joffes neuem Buch "Die Hypermacht" spürt man immer noch die Verwunderung des eingefleischten Realisten darüber, dass sich ein Imperium wie das sowjetische ohne kriegerische Einmischungen von außen einfach selbst auflöst. Nach 1989 nahmen viele an, dass mit der Auflösung der Blockkonfrontation und mit der Aufhebung jener künstlichen Vereisung des Globus' eine Anomalie abgeschafft wurde und der Weg nun frei sei für das, was seit der Gründung des Völkerbundes 1910 als konkrete Utopie der internationalen Politik galt: die Schaffung eines gerechten internationalen Systems mit einer Quasi-Weltregierung, die das Miteinander von Staaten und Bürgern auf dem Globus gedeihlich arrangieren würde. Das war eine typische hegelianische Vorstellung von der Menschheit, die immer größere Stufen der Perfektion erklimmt. Nur waren die UN weder in der Lage noch gebaut dafür, solches zu tun - daran haben auch die utopisch angehauchten Elogen, mit denen sie jahrelang überfrachtet wurden, nichts geändert. Die UN waren nicht fähig, die ihr besonders von den Europäern zugedachte Rolle zu übernehmen - unter anderem auch deshalb, weil die Welt - von Kosovo über Ruanda, Nordkorea bis zum 11. September und zum Krieg im Irak - sich nicht an die schönen Hoffnungen halten wollte.

Illusion der multilateralen Ordnung

Heute zeigt sich, dass die wahre geschichtliche Anomalie in jenen 17 Jahren seit dem Fall der Mauer bestand, als Europa der Illusion einer allein multilateralen Ordnung erlag. Unterschwellig war die Realpolitik nie verschwunden. Nur dass sie jetzt mit dem schwächelnden Amerika und dem auftrumpfenden Russland und Iran wieder stärker ins Bewusstsein rückt.

Beides hat miteinander zu tun. Denn die internationale Ordnung, von der man in Europa gern glaubte, ihr oberster Agent sei die UN, war ja eigentlich machtpolitisch durch den militärischen Schutz Amerikas über Europa abgesichert. Ein Schirm, der auch die Handels- und Rohstoffrouten Europas und weiter Teile der Welt absicherte. Hinzu kam, dass die Ausdehnung von Nato und EU einen Sicherheitsgürtel um Mitteleuropa gelegt hatte, so dass der Kontinent glaubte, sich bequem zurücklehnen zu können und die Friedensdividende genießen zu dürfen. Zudem gab es weit und breit niemanden, der sich anschickte, diese Ruhe zu stören.

"Test the West"

Nun schwächelt Amerika wegen des Desasters im Irak, und alle möglichen Gegenkräfte auf dem Globus spielen "Test the West", von Iran und Syrien über China, Russland und Nordkorea. Und plötzlich hat der alte Gegenspieler des Westens auch eine noch viel effektivere Waffe zur Hand als ehemals die SS-20: Seit mehr als einem Jahr setzt Wladimir Putin die Ölwaffe ein, um seine Hegemonie über ehemalige Vasallen der Sowjets zu festigen. Gleichzeitig zeigt Putin einem energieabhängigen Europa die Folterwerkzeuge. Und der Westen demonstriert deutliche Anzeichen von Schwäche: Amerika machtpolitisch, weil es sich im Irak übernommen hat und die amerikanische Gesellschaft immer deutlicher signalisiert, die Bürde einer Alleinigensupermachtaußenpolitik nicht länger tragen zu wollen. Und Europa mental, weil es sich plötzlich mit Kategorien von Weltpolitik konfrontiert sieht, in denen es schon lange nicht mehr gedacht hat. Etwa denen, dass jeder Staat seine Macht automatisch ausdehnt, wenn er die Möglichkeiten dazu hat, bis ihm andere Mächte Grenzen setzen. Russland, Iran und anderen solche Grenzen zu setzen, steckt offenbar nicht mehr in der europäischen DNS und muss mühsam neu erlernt werden - was im Falle Irans einigermaßen funktioniert, im Falle Russlands weniger, weil die Abhängigkeit von Russland eine wirksame Gegenstrategie Europas erschwert. Und weil der Kontinent in der Energiepolitik immer noch nicht den Weg verfolgt, der die EU groß gemacht hat: den des gemeinsamen Vorgehens.

Nun gibt es viele, die im neuen machtpolitischen Muskelspiel Russlands nur die logische Folge ebensolcher Machtpolitik von Seiten des Westens sehen. Schließlich müsse sich Russland durch die Nato-Osterweiterung bis fast an seine Grenzen provoziert fühlen, so etwa Michael Stürmer in der Welt. Thomas L. Friedman von der New York Times hält das ganze Projekt der Nato-Osterweiterung in den 90er Jahren deshalb sogar für einen Fehler. Man hätte Russland unnötig herausgefordert und bekomme nun die Quittung dafür, während man Russlands Kooperation doch zur Lösung von Weltproblemen überall brauche, in Nordkorea genauso wie in Iran und im Libanon.

Flucht ins Haus von Nato und EU

Ich glaube auch, dass eine Gegenreaktion Russlands unausweichlich war. Sie wäre aber auch dann erfolgt, wenn es die Nato-Osterweiterung nicht gegeben hätte. Es entspricht den Gesetzen der Realpolitik, dass ein Staat versucht, sein Einflussgebiet auszudehnen und Macht auf sein Umfeld zu projizieren. Russland wäre also in jedem Falle wieder eine Macht geworden, mit der man sich auf der eurasischen Platte auseinandersetzen muss und die als Machtkonkurrent auftritt, Nato-Erweiterung hin- oder her. Es spricht für das realistischere Geschichtsverständnis der Osteuropäer, dass sie diesen Moment vorausgesehen haben - der wegen der hohen Ölpreise früher eintrat, als gedacht - und sich vorsorglich schon früh unter den Schutz der Nato und zum Teil ins Haus der EU begeben haben. Die Natoerweiterung war also kein Fehler, sondern eine Notwendigkeit für all jene Staaten, die jahzehntelang unter der sowjetischen Knute gelitten hatten.

Zudem ignoriert eine Analyse à la: "Wir hätten die Osteuropäer nicht aufnehmen sollen, um den russischen Bär nicht zu reizen", einen wichtigen Unterschied beider Seiten. Die Ausdehnung von Nato und EU entsprach dem Willen der Nationen, die beigetreten sind, war also das Ergebnis einer freien Entscheidung freier Völker. Russland versucht hingegen, die verbliebenen Osteuropäer mit Gewalt unter die eigenen Fittiche zu nehmen, sei es mit der Macht von Öl und Gas, sei es durch das Schüren von Minderheitenkonflikten in Moldawien und Georgien. Niemand, der ernsthaft für die Selbstbestimmung der Völker eintritt, kann fordern, wir hätten die Osteuropäer im Zugriffsgebiet Moskaus belassen sollen, um die Russen nicht zu sehr gegen uns aufzubringen.

Herrn Putins Gespür für Amerikaskepsis

Russlands neues Selbstbewusstsein ist also vor allem eine intellektuelle Herausforderung für Europa, für Deutschland noch weit mehr als für Frankreich und Großbritannien, wo es immer noch Reste einer Tradition des strategischen Diskurses gibt. Es wird Zeit, dass das hiesige Reden über Außenpolitik realpolitischer, konkreter, strategisch informierter und weniger wolkig wird. Man bekommt handfeste Interessenkonflikte nicht aus der Welt, indem man leugnet, dass es sie überhaupt gibt. Putin hat ein realistisches Bild von der mentalen Schwäche Europas, von seiner Machtvergessenheit und seiner Scheu vor Konflikten. Putin ist auch die Amerikaobsession Europas nicht entgangen, in seiner Rede sprach er in Europa weit verbreitete Vorurteile und auch berechtigte Kritik der Europäer an den USA an. Moskau hofft so offenbar, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben. Wäre Putins Rede weniger im Kalten-Kriegs-Ton gehalten gewesen, hätte er sich auch des Beifalls vieler Europäer sicher sein können.

Stattdessen wurde in München deutlich, dass Putin über ein klares, aktivistisches Konzept verfügt, die Schwächen des Westens zu seinem Vorteil auszunutzen. Bisher mangelt es vor allem in Europa an einer ebenso klaren und realistischen Strategie, wie man Russland begegnen will. (Von Clemens Wergin)

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