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Politik: Puzzle der Schicksale - Eine Berlinerin will Gerechtigkeit

Marina Schubarth überlegt nur eine Sekunde. Ein Beispiel, ein Schicksal?

Marina Schubarth überlegt nur eine Sekunde. Ein Beispiel, ein Schicksal? Sie kennt Hunderte Ukrainer, die während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen verschleppt wurden und dann Zwangsarbeit leisten mussten. Sie kennt auch deren Söhne und Töchter, die damals in Deutschland, also in Unfreiheit geboren wurden. Hanna Chartschenko ist eines dieser Kinder. Als Säugling wurde sie von einem Deutschen an den Beinen gepackt und in den Schweinestall geschleudert. Seitdem muss sie mit einem verkrüppelten Brustkorb leben, ist Invalidin. Nach dem Krieg kehrte die heute 55-Jährige mit ihrer Mutter in die Ukraine zurück. Sie tauschte eine Hölle gegen eine andere. Die Landsleute nannten sie nur abfällig "Deutsche". Immer wieder bekam das Mädchen zu hören: "Unser Vater kämpfte gegen die Nazis, und deine Mutter schlief mit den Deutschen." Lange hielt die Mutter das nicht durch. Sie starb, aus Kummer über ihr Leid.

Hätten die Deutschen nicht Ukrainer als Untermenschen deportiert, wäre Hanna Chartschenkos Leben anders verlaufen. Deshalb möchte sie zumindest die Entschädigung haben, die ihrer Mutter als ehemaliger NS-Zwangsarbeiterin zugestanden hätte. Die Aussichten sind allerdings schlecht. Auch die neue, am heutigen Mittwoch in Berlin beginnende Gesprächsrunde über den Entschädigungsfonds wird nichts daran ändern: Als Kind, das in Deutschland zur Welt kam, gehört sie nicht zu den Anspruchsberechtigten. Diese Ungerechtigkeit will Hanna Chartschenko nicht einfach hinnehmen. Sie will für ihre Entschädigung kämpfen. Marina Schubarth hilft ihr dabei. Für viele Ukrainer ist die 34-Jährige die letzte Hoffnung.

Die Charlottenburgerin, die in Kiew geboren und aufgewachsen ist, bemüht sich seit drei Jahren darum, den Opfern einen Nachweis für ihre Zwangsarbeit während der NS-Zeit zu beschaffen. "Das ist ein Puzzlespiel, für das man den Spürsinn eines Detektivs braucht." Oft haben die Menschen nichts in der Hand, erinnern sich nur noch an zwei, drei Buchstaben des Firmennamens oder der Ortschaft, in der sie gezwungenermaßen lebten. Aus kleinsten Details rekonstruiert Marina Schubarth dann ein Schicksal. Ist das geschafft, schreibt sie die Betriebe an und bittet um Mithilfe, fragt nach Arbeitskarten oder Versicherungsscheinen der Opfer. Noch schwieriger wird es, wenn es die Unternehmen nicht mehr gibt. Dann hilft nur der Weg in die Archive. Ein beschwerlicher Weg. Hilfsbereitschaft, sagt Marina Schubarth, erlebe sie nur noch selten. "Manchmal muss ich mir Sätze anhören wie: Sollen die Ost-Arbeiter doch selbst kommen und ihre Unterlagen abholen."

Jede Anfrage kostet viel Zeit und noch mehr Nerven. Doch Marina Schubarth hat gelernt durchzuhalten. "Ich bin zäh, ich gebe nicht so schnell auf", sagt sie. Willensstärke ist auch bitter nötig. Oft dauert es Monate, bis der für die Zahlung von Entschädigung so wichtige Arbeitsnachweis vorliegt. Ein mühsames Geschäft. Aber eines, das sich lohnt. Schon der kleinste Betrag kann dabei helfen, das Leben der betroffenen Menschen in der Ukraine zumindest ein wenig lebenswerter zu machen. Das wird anschaulich, wenn Marina Schubarth über die Armut in ihrer einstigen Heimat berichtet: "Den Leuten fehlt es an allem." 25 Mark Rente gibt es, ein Brot kostet schon 1,20 Mark. Medikamente sind unerschwinglich. Häufig reicht das Geld nicht mal für eine Briefmarke. "Manch einer wühlt im Müll, um etwas Essbares zu finden."

Wie schlecht es den meisten Menschen geht, dass hat Marina Schubarth vor drei Jahren erfahren. Damals besuchte sie mit einer Journalistengruppe Tschernobyl. Eine Frau sprach sie an. Die ehemalige Zwangsarbeiterin, die Ravensbrück überlebt hatte, bat um Hilfe bei ihrem Bemühen, eine Entschädigung zu erhalten. Marina Schubarth half. Das war der Anfang ihres Engagements. Immer mehr Opfer meldeten sich bei der jungen Frau, die nach einem Unfall vor ein paar Jahren ihre Karriere als Tänzerin aufgeben musste und nun als Schauspielerin arbeitet. Die Aktenordner füllten sich - jeder Fall ein besonderes Schicksal. 120 Schützlinge hat sie derzeit, zehn von ihnen konnte sie schon helfen.

Es ist eine Hilfe, die an Selbstausbeutung grenzt. Dass sie für ihre Arbeit keinen Pfennig bekommt, ist ihr keine Erwähnung wert. Sie betont aber, dass eine Russin und eine Deutsche sowie einige Studenten sie unterstützen. Alles, was sie verdient und nicht zum Leben für sich und ihre sechsjährige Tochter Natascha braucht, fließt in ihr Hilfsprojekt Ukrainische Zwangsarbeiter. "Ich mache das, weil ich für die alten Menschen Verantwortung trage, ebenso wie für ein Kind." Doch die Verantwortung wiegt oft schwer. Wenn sie in der Ukraine ist, dann trifft sie auf traurige und verzweifelte Menschen. Viele sind enttäuscht, weil sich die Verhandlungen über den 10-Milliarden-Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft und des Bundes so in die Länge ziehen. "Wir werden das Ende der Gespräche nicht mehr erleben" - diesen Satz hört Marina Schubarth oft. Hinzu kommt, dass es inzwischen Spannungen zwischen den Naziopfern gibt. Die Kriegsveteranen empören sich darüber, dass ehemalige Zwangsarbeiter Geld bekommen sollen, sie aber leer ausgehen werden: "Ihr habt die Bomben in deutschen Rüstungsfirmen gebaut, die uns zu Krüppeln gemacht haben."

Der Vorwurf wiegt schwer. Opfer gegen Opfer, Leid gegen Leid aufrechnen - das ist in Marina Schubarths Augen Unrecht. Deshalb ärgert sie sich auch, dass es bei der Entschädigung der Zwangsarbeiter verschiedene Kategorien geben soll. Jüdische Häftlinge in Konzentrationslagern, die wie Sklaven bis zum Umfallen schufteten, werden den Höchstbetrag von rund 15 000 Mark erhalten. "Ein Ukrainer, der auch im KZ war und zur Arbeit gezwungen wurde, bekommt deutlich weniger Geld", sagt Frau Schubarth und schüttelt dabei den Kopf. Solche Ungleichbehandlung liegt ihrer Meinung nach nicht zuletzt am mangelnden Wissen über das Schicksal der ukrainischen "Ostarbeiter". "Wer weiß schon, dass viele, die aus Deutschland kamen, gleich nach Sibirien deportiert wurden." Gegen Unkenntnis hilft nur, sich als Opfergruppe zu organisieren. Am 11. April, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, wollen sich ehemalige Zwangsarbeiter in der Ukraine treffen, darunter 120 Männer und Frauen, die in Berliner Betrieben arbeiten mussten. Auch Marina Schubarth wird dabei sein. Zwei volle Tage dauert die Zugfahrt dorthin. Ein Flug wäre zu teuer.

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