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Kenan Kolat ist SPD-Mitglied und verheiratet mit Dilek Kolat, der Berliner SPD-Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration.

© Mike Wolff

Kenan Kolat: "Ich bekomme immer wieder Hass-Mails"

"Die Debatte über Integration ist nicht ehrlich." Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, über die Neonazi-Morde, einen deutschen Mangel an Sensibilität – und schlaflose Nächte.

Herr Kolat, geht Ihnen Deutschland auf die Nerven?

Ja und nein. Ich lebe gerne in Deutschland, aber hier sind Gefühle und menschliche Nähe weniger wichtig als in der Türkei. Deutschland ist gut organisiert, doch es mangelt an Sensibilität. Das hat man leider auch bei den Ermittlungen zu den Morden der rechtsextremen Terrorgruppe gesehen. Dass da in Behörden und Medien ständig von „Döner-Morden“ die Rede war, hat mich und viele der hier lebenden Türken verletzt. Es fehlte die Opferperspektive, die Nähe zu den betroffenen Menschen.

Fühlen Sie sich hier sicher?

Eigentlich schon, aber ich bekomme immer wieder Hass-Mails von augenscheinlich rassistischen Personen. Im November, kurz nachdem die Taten der Terrorgruppe bekannt wurden, hat mir ein Mann geschrieben, wenn wir Türken Deutschland verließen, gäbe es für Neonazis keinen Grund mehr, Türken zu erschießen. Die Hetze war allerdings noch schlimmer, als Sarrazins Buch erschien. Da waren 95 Prozent aller Mails pro Sarrazin. Jetzt kommen auch mehr solidarische Mails, weil es um Morde geht. Die Terrorgruppe hat immerhin acht Gewerbetreibende türkischer Herkunft getötet.

Wie reagiert die türkische Gemeinde auf die Morde und den Anschlag, den die Terroristen mit einer Nagelbombe vor einem türkischen Friseursalon in Köln verübt haben?

Bei den Türken ist der Eindruck weit verbreitet, ihre Probleme und Ängste würden nicht ernst genommen. Als nach den ersten Morden an den türkischen Kleinunternehmern der damalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Hakki Keskin, öffentlich die Frage nach einem rassistischen Hintergrund stellte, kam aus der deutschen Bevölkerung viel Kritik. Uns wurde vorgeworfen, die Anschläge zu instrumentalisieren. Und als ich dem Bundesinnenministerium und den Länderinnenministerien 2007 eine Liste mit 95 ungeklärten Brandanschlägen auf türkische Einrichtungen schickte, erhielt ich keine Antwort. Ich habe die Liste jetzt zur Bundesanwaltschaft geschickt.

Verlängern die Morde der Terrorgruppe das Trauma der Brandanschläge von Mölln und Solingen, bei denen acht türkische Frauen und Mädchen starben?

Ich musste im November automatisch an Mölln und Solingen denken. Ich konnte nachts nicht richtig schlafen. Dass es nach Mölln und Solingen auch noch eine Serie von Morden in der Bundesrepublik gab, hat mich geschockt. Und es ist schwer erträglich, dass diese Verbrechen nicht aufgeklärt werden konnten und die Sicherheitsbehörden vermutet haben, die Opfer könnten selbst in kriminelle Aktivitäten verwickelt gewesen sein.

Laut einer Umfrage der Hacettepe-Universität Ankara unter den hier lebenden Türken und Deutschtürken glauben 55 Prozent, der Staat habe die rechtsextreme Terrorzelle gefördert oder sogar beschützt.

Ich frage mich, welche Stellen im staatlichen Apparat diese Neonazis indirekt unterstützt haben. Laut dieser Umfrage sollen die Mörder vom Staat gefördert oder gar beschützt sein. Ich war über dieses Ergebnis erschüttert.

Wie erklären Sie sich, dass dennoch in der Umfrage fast 80 Prozent die Morde nicht der deutschen Gesellschaft anlasten?

Die hier lebenden Türken wissen, dass nicht pauschal die „Deutschen“ für solche Verbrechen verantwortlich sind. Es herrscht eher die Meinung, der deutsche Staat sei auf dem rechten Auge blind.

"Auch wenn Sarrazin keine Schuld an den Morden trägt, fällt auf, dass nach Erscheinen seines Buches Menschen mit Migrationshintergrund auf die Anklagebank gestellt werden, anstatt über Rassismus zu diskutieren.

Trotz aller Versäumnisse haben Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und andere staatliche Institutionen viel gegen Rechtsextremismus unternommen.

Das stimmt, aber viele Türken schauen auf das Ergebnis. Am Ende waren acht Menschen türkischer Herkunft tot.

Kann der Staat bei der türkischen Gemeinde Vertrauen zurückgewinnen?

Das muss er. Es ist ja schon so, dass die Regierungen in Bund und Ländern und die Parlamente versuchen, die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden aufzuklären. Ich hoffe auch sehr, dass das dem Untersuchungsausschuss des Bundestages und den Gremien in den Ländern gelingt. Zurzeit führt die Bundesregierung eine „Pannenstrategie“ durch; es geht „nur“ um die Aufklärung der Pannen der Sicherheitsbehörden. Es stört mich, dass weder in der politischen Klasse noch in der Gesellschaft ernsthaft darüber debattiert wird, wie in diesem Land ein Verbrechen förderndes Klima gegen Minderheiten entstehen konnte. Auch wenn Sarrazin keine Schuld an den Morden trägt, fällt auf, dass nach Erscheinen seines Buches Menschen mit Migrationshintergrund auf die Anklagebank gestellt werden, anstatt über Rassismus zu diskutieren.

Kanzlerin Angela Merkel hat die Morde als Angriff auf die Demokratie bezeichnet, der Bundestag hat sich entschuldigt. Was müsste noch geschehen?

Ich erwarte, dass die Politik die Ursachen rechtsextremer Gewalt ergründet. Über Jahre hinweg haben viele Politiker die rassistische Bedrohung kleingeredet. Jetzt müssen wir dringend darüber sprechen, wie der Rassismus zurückgedrängt werden kann. Und mir fehlt ein Zeichen der Politik, das die Bevölkerung einbezieht. Warum haben nicht alle Mitglieder der Bundesregierung und alle Abgeordneten des Bundestages gemeinsam mit Kirchen und Verbänden zu einer großen Demonstration aufgerufen? Es gab bislang nur Mahnwachen, auch von der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Insgesamt war die Beteiligung gering. Ist das vielleicht auch ein Zeichen der Zustimmung zu Sarrazins nationalistischen Thesen?

Am 23. Februar werden der Bundespräsident und weitere Spitzenpolitiker an der zentralen Trauerfeier für die Opfer der Terrorgruppe teilnehmen. Gehen Sie dahin?

Ich werde daran teilnehmen. Aber einige der Opferfamilien, mit denen ich gesprochen habe, wollen nicht. Sie haben nach den Morden getrauert, sie trauern nicht erst Jahre später. Türken erwarten auch, dass man zu ihnen kommt, um mit ihnen gemeinsam zu trauern. Ich habe vorgeschlagen, dass der Bundespräsident zu den Familien der Opfer fährt, anstatt sie nach Berlin einzuladen. Aber es wäre trotzdem wichtig, dass bei der zentralen Trauerfeier Angehörige der Opfer zu Wort kommen können. Ich habe das dem Bundespräsidenten vorgeschlagen.

Die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John, kümmert sich im Auftrag der Bundesregierung als Ombudsfrau um überlebende Opfer der Anschläge und um die Angehörigen der Ermordeten. Was kann John bewirken?

Sie ist eine moralische Autorität, die nicht nur helfen kann, sondern auch Denkprozesse in Gang bringt. Ich begrüße sehr, dass sie einen Wandel bei der Polizei hin zu mehr Sensibilität im Umgang mit Migranten fordert. Gerade in diesem Punkt müssen Aus- und Fortbildung der Beamten verstärkt werden. Und es muss stärker nach rassistischen Einstellungen in der Polizei geforscht werden. Ich will keine Gesinnungsschnüffelei, aber es drängt sich schon die Frage auf, warum die Polizei zur Aufklärung der Morde an den acht Kleinunternehmern türkischer Abstammung eine Sonderkommission mit dem Namen „Bosporus“ gründete. Der Bosporus ist von Deutschland weit entfernt. Aber schon der Name suggeriert, die Mörder seien aus der Türkei gekommen. So fängt Rassismus an.

"Die Debatte über Integration ist nicht ehrlich."

Seit 1990 haben Rechtsextremisten mindestens 148 Menschen getötet, zählt man die zehn Mordopfer der Terrorgruppe mit. Bundesregierung und Polizei haben als letzte Zahl lediglich 48 Tote genannt. Wie bewerten Sie den Unterschied?

Das ist für mich völlig unverständlich. Wir haben das kürzlich bei Vertretern des Bundesinnenministeriums, des Justizministeriums und des Familienministeriums thematisiert. Mir wurde dann gesagt, wenn bei Gewaltverbrechen von Rechtsextremisten kein politischer Hintergrund zu erkennen sei, würden die Delikte auch nicht in der Statistik notiert. Da sind wir wieder bei dem Problem, dass nicht genau genug hingeschaut wird. Ich fordere von der Bundesregierung, mir zu jedem einzelnen Fall, der nicht offiziell als rechtes Tötungsverbrechen registriert ist, die Gründe zu nennen.

Sie fordern auch, generell nicht mehr von Integration zu sprechen, sondern den Begriff der Partizipation zu verwenden.

Die Debatte über Integration ist nicht ehrlich. Der Begriff Integration entspricht dem Verlangen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, dass die hier lebenden Türken und anderen Migranten sich anzupassen haben. Mir geht es aber darum, über Partizipation zu reden, also Teilhabe, kulturelle Vielfalt und Demokratie. Dazu gehört, dass endlich die Mehrstaatigkeit, die ich auch habe, gesetzlich ein Normalfall werden soll. Und es geht um Teilhabe von Migranten in Institutionen wie beispielsweise den Rundfunkräten. Und warum gibt es in Deutschland keinen einzigen Schulleiter türkischer Herkunft?

Wie stellen Sie sich eine gemeinsame Zukunft von Deutschen, türkischstämmigen Deutschen und Türken vor?

Wir müssen ein Wir-Gefühl entwickeln und mehr Empathie. Dann könnten wir in einer deutsch-türkischen Hybridkultur gut zusammenleben.

Das Gespräch führten Frank Jansen und Armin Lehmann. Das Foto machte Mike Wolff.

Kenan Kolat ist am 24. August 1959 in Istanbul geboren, besuchte dort das österreichische Gymnasium und kam mit 21 Jahren nach Berlin. Berlin und Istanbul seien für ihn die schönsten Städte der Welt, sagt er. Kolat ist SPD-Mitglied und verheiratet mit Dilek Kolat, der Berliner SPD-Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration. Er studierte Schiffsbau und wurde, wie er sagt, vom Schiffsbauingenieur zum Gesellschaftsingenieur. Gerade macht er sich selbstständig.Er isst gern Döner und Currywurst, aber auch mal Sauerkraut. Kolat ist Fußball-Fan, Mitglied von Hertha BSC und Fenerbahce Istanbul. ale

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