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Politik: Reformen ja, aber nicht für die EU

Istanbul - Die Zeiten, in denen sich Recep Tayyip Erdogan richtig über die Europäer aufregen konnte, sind wohl vorbei. Die EU finde immer neue Vorwände, um den Weg seines Landes zum Beitritt zu erschweren, beschwerte sich der türkische Premier kürzlich vor Wirtschaftsvertretern in Istanbul.

Istanbul - Die Zeiten, in denen sich Recep Tayyip Erdogan richtig über die Europäer aufregen konnte, sind wohl vorbei. Die EU finde immer neue Vorwände, um den Weg seines Landes zum Beitritt zu erschweren, beschwerte sich der türkische Premier kürzlich vor Wirtschaftsvertretern in Istanbul. Aber: „Wir haben uns daran gewöhnt.“ Auch sonst schläft in Ankara kaum jemand mehr schlecht wegen des schleppenden Fortgangs der Beitrittsgespräche. Verhandlungsführer Ali Babacan sagte sogar, es stehe keinesfalls fest, dass sein Land eines Tages in die EU aufgenommen werde. Grund für die ungewohnte Gelassenheit ist ein neues europapolitisches Konzept, dessen Umrisse jetzt sichtbar werden: Reformen ja, aber notfalls ohne EU, ist die Devise.

Der heftige Streit um Zypern Ende des vergangenen Jahres enttäuschte türkische Europapolitiker tief. Acht EU-Verhandlungskapitel sind seit Dezember gesperrt, der Beitrittsprozess ist erheblich verlangsamt. Erdogan kündigte zwar an, die politischen und wirtschaftlichen Reformen würden weitergehen. Doch es gibt einen wichtigen neuen Akzent: Die Türkei will die innen- und wirtschaftspolitischen Reformen vom EU-Verhandlungsprozess abkoppeln, sagt Babacan offen.

Da die türkische Mitgliedschaft auch in den EU-Großmächten Deutschland und Frankreich zunehmend infrage gestellt wird, lautet die Botschaft von Babacan und Erdogan: Warum sollte die Türkei in den Beitrittsverhandlungen nach der Pfeife der EU tanzen, wenn die EU nicht garantieren kann, dass am Ende dieser Verhandlungen auch der Beitritt steht? Wirtschaftlicher Aufschwung, geostrategische Bedeutung und die Tatsache, dass ein völliger Abbruch des Beitrittsprozesses sehr unwahrscheinlich ist, verleihen Ankara neues Selbstbewusstsein. Anfang April will die Regierung den eigenen Reformfahrplan vorlegen, der detailliert festhalten soll, in welchen Zeiträumen welche Vorhaben angepackt werden sollen. Die EU wird dabei nicht gefragt.

Im Wahljahr 2007 hat die Entkoppelung der eigenen Ziele von EU-Vorgaben für Erdogan den Vorteil, dass Brüssel nicht mehr so viel Druck machen kann wie bisher. Das gilt etwa für den Zypern-Konflikt, bei dem die Europäer bis auf Weiteres kein Entgegenkommen erwarten können. Angesichts der wachsenden EU-Skepsis in der türkischen Wählerschaft macht die neue Distanz zu Brüssel es für Erdogans Regierungspartei AKP zudem möglich, die eigene Leistung zu preisen, ohne sich von Nationalisten den Vorwurf einzuhandeln, Erfüllungsgehilfe Europas zu sein. Die Türkei ist ein ehrlicher und fleißiger Bewerber, aber die Europäer spielen eben mit gezinkten Karten – so ähnlich wird es wohl in den Reden heißen. Das dürfte ankommen auf den Marktplätzen Anatoliens.

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