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Russland und Europa: Kühle Kalküle

Der Finanzexperte Viktor Subkow soll neuer russischer Ministerpräsident werden und gilt deshalb bereits als möglicher neuer Präsident. Welche Mächte stecken hinter ihm? Wofür steht er?

Welche Mächte stecken hinter ihm? Wofür steht er? Ist er das Ergebnis finsterer Seilschaften? Früher nannte man die Wissenschaft, die den Westlern einen neuen starken Mann in Moskau erklären sollte, Kremlologie, oder noch abfälliger: Kreml-Astrologie. Ganz verschwunden ist sie nicht, wie so manches, was mit unserem Verhältnis zum Nachfolgereich der Sowjetunion zu tun hat. Nun also Viktor Subkow, ein 65-jähriger Finanzexperte. Er soll der neue russische Ministerpräsident werden und gilt deshalb bereits als möglicher neuer Präsident. Und weil das so ist, schließt sich aufgeregt und automatisch die Frage an: Wenn Viktor Subkow Nachfolger von Wladimir Putin würde, was dann? Wäre das gut für Europa und die Welt oder schlecht?

Das weiß natürlich keiner. Zu viele weiße Blätter und Konjunktive sind im Spiel. Interessant jedoch ist die Nervosität, mit der viele Europäer immer noch auf alle Aktivitäten des Kreml reagieren, diese Mischung aus Respekt, Romantizismus und Besessenheit, mit der die Politik Russlands verfolgt wird. Die Sowjetunion ist seit fast zwei Jahrzehnten tot, doch unser Blick auf das riesige Flächenland gleicht bis heute oft dem des Kaninchens, das auf die Schlange starrt, so fasziniert wie ängstlich. Vielleicht stirbt diese Haltung ja langsam ab. Ihre letzten Vertreter jedenfalls, Helmut Kohl und Gerhard Schröder, Silvio Berlusconi und Jacques Chirac, haben die Bühne verlassen. Angela Merkel, Nikolas Sarkozy und Gordon Brown sind weitgehend frei vom Verdacht der Kumpel- und Kungeldiplomatie. Sie blicken erfrischend nüchtern auf Russland – und wägen ab.

Das Land hat Atomwaffen, Energievorkommen und einen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Ganz egal kann uns Russland folglich nicht sein. Aber die Waagschale auf der anderen Seite wiegt nicht minder schwer: sture Blockade im Fall Iran, ebenso beim Kosovo, aggressiver Einsatz seiner Öl- und Gasexporte, autokratischer Umgang mit vielen Nachbarstaaten, die sich aus dem Sowjetimperium gelöst haben, Rückschritte in den Bereichen Menschenrechte, Demokratie und Pressefreiheit. George W. Bush hat Putin einst als Seelenverwandten bezeichnet, sich redlich um dessen Gunst bemüht, zum Dank hat dieser die USA zum altneuen Bösewicht Nummer eins aufgebaut. Das kommt an bei den Russen, von denen nur eine winzige Minderheit das westliche Modell als ideal betrachtet. Auch in Europa herrschte lange Zeit viel Verständnis für die Gereiztheiten des Kremls. Die geschrumpfte Supermacht fühle sich gedemütigt und eingekreist, hieß es. Auf die Kooperationsbereitschaft Moskaus indes hatte auch dieses Wohlwollen kaum Einfluss. Was dort geschieht, folgt in erster Linie innenpolitischem und geostrategischem Kalkül.

Für Helmut Schmidt war die Sowjetunion einst eine Art „Obervolta mit Atomraketen“. Heute ist Russland, aufgrund seiner Energieressourcen, eher eine Art Venezuela mit Atomraketen. Die Bedeutung des Nuklearwaffenarsenals hat seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zum Glück abgenommen. Jetzt gilt es, die Bedeutung des Rohstoffreichtums zu verringern. Wer nach Putin kommt, ist vielleicht weniger wichtig als die Frage, wie sich Europa unabhängiger machen kann von russischen Energieimporten. Kühle Gelassenheit im Umgang mit dem Kreml kann sich nur der leisten, dem die andere Seite nicht nach Belieben den Hahn auf- und zudreht. Erst dann würde die Frage, wer dieser Viktor Subkow eigentlich ist, gesunder Neugier entspringen.

Ein Kommentar von Malte Lehming

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