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Schengen-Abkommen: Im Grenzbereich

Dänemark will Kriminelle abwehren, andere Staaten wollen afrikanische Flüchtlinge fernhalten. Wird es in Europa künftig wieder Schlagbäume geben?

Für überzeugte Europäer ist es eine Horrorvision: die Rückkehr Europas ins Zeitalter der Schlagbäume. Genau darum geht es, wenn die EU-Innenminister an diesem Donnerstag zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammenkommen und darüber beraten, welche Auswirkungen der Zustrom illegaler Flüchtlinge aus Nordafrika für das schrankenlose Europa hat. Aufgeschreckt sind sie durch die Ankündigung der dänischen Regierung, demnächst wieder Grenzkontrollen einzuführen. Auf dem Tisch der Minister liegt zudem ein Vorschlag der EU-Kommission, der vorübergehende Grenzkontrollen innerhalb Europas wieder erleichtern würde – 26 Jahre, nachdem fünf europäische Staaten, darunter Deutschland, in der Nähe des luxemburgischen Winzerdorfs Schengen vereinbarten, künftig auf Kontrollen zu verzichten.

Steht das Schengen-Abkommen auf dem Spiel?

„Schengen“ ist zum Sinnbild für grenzenlose Reisefreiheit in Europa geworden. Über zwei Jahrzehnte nach dem historischen Beschluss in Luxemburg ist der Schengen-Raum, der den Wegfall der Passkontrollen zwischen Reykjavik und Rom garantiert, auf 26 Staaten angewachsen. Schengen gehört zu den Annehmlichkeiten, die mehr und mehr Europäer seit dem Inkrafttreten des Abkommens vor 16 Jahren in Anspruch nehmen können. Umso größer war auch der Aufschrei unter Europapolitikern, als EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström in der vergangenen Woche einen Vorschlag vorstellte, nach dem es wieder verstärkt zu stichprobenartigen Grenzkontrollen im Schengen-Raum kommen könnte.

Seit dem Beginn der Revolte in der arabischen Welt sind mehr als 25 000 Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien und Malta angekommen. Seit die ersten Bootsflüchtlinge aus Tunesien auf der italienischen Insel Lampedusa landeten, war es vor allem Italiens Innenminister Roberto Maroni von der rechtspopulistischen Lega Nord, der angesichts tausender illegaler Einwanderer Alarm schlug und die Solidarität der übrigen EU-Mitgliedstaaten einforderte. Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi löste das Problem auf seine Weise und stellte den tunesischen Flüchtlingen einfach Aufenthaltsgenehmigungen aus – in der Hoffnung, dass sie nach Frankreich weiterziehen würden. Aber Nicolas Sarkozy versperrte ihnen den Weg. Mitte April ließ Frankreichs Staatschef bei Ventimiglia an der Grenze zu Südfrankreich den Zugverkehr unterbrechen – trotz des Schengen-Abkommens.

Seit dem Streit zwischen Berlusconi und Sarkozy steht Schengen auf dem Prüfstand. Nach dem Vorschlag der EU-Kommissarin Malmström könnte es nun eine Neuregelung geben, die vorübergehende Grenzkontrollen innerhalb Europas ermöglicht, wenn ein Mitgliedstaat angesichts der Ankunft tausender illegaler Flüchtlinge mit der Sicherung der EU-Außengrenzen überfordert ist. Mit ihrem Bericht kam Malmström der Forderung Berlusconis und Sarkozys nach, die verschärfte Kontrollen verlangen.

EU-Diplomaten bezweifeln aber, dass die Ankunft der tunesischen Flüchtlinge bereits einen Notstand für Italien bedeutet, der eine grundlegende Überarbeitung des Schengen-Abkommens rechtfertigen würde. „Die Situation in Italien ist im Moment angespannt – aber nicht so, dass Rom überfordert wäre“, sagt ein Brüsseler Diplomat. Bei den Beratungen über den Vorschlag der Schwedin Malmström gehe es zudem „nicht darum, Schengen und die Freizügigkeit auszusetzen“. Am Wegfall der Grenzkontrollen in Schengen-Land soll sich im Grundsatz also nichts ändern. Und dass im Schengen-Raum tatsächlich wieder Schlagbäume aufgestellt werden, steht ohnehin nicht zur Debatte.

Wie schnell sich aber Europa und das Schengen-Abkommen in seinen Grundfesten erschüttern lassen, führte am Mittwoch Dänemark vor. Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei (DVP), die die Minderheitsregierung in Kopenhagen stützt, setzte sich mit ihrer Forderung durch, dass an Dänemarks Grenzen künftig wieder kontrolliert wird. Die DVP-Chefin Pia Kjærsgaard, die seit Wochen Stimmung gegen illegale Flüchtlinge und kriminelle Einwanderer macht, brachte in ihrer Forderung nach „permanenten Grenzkontrollen“ die Mehrheit der Regierung hinter sich. Mit spürbaren Folgen: Zehn Jahre nach der Abschaffung der Kontrollen im Königreich sollen nun wieder dänische Zöllner an der Landgrenze mit Deutschland und in den Fährhäfen zum Einsatz kommen.

Wie könnte eine Neuregelung des Schengen-Vertrages aussehen?

Schon jetzt sind im Schengen-Raum sporadische Grenzkontrollen möglich. In seltenen Fällen haben Schengen-Staaten von dieser Möglichkeit in der Vergangenheit auch Gebrauch gemacht. So schickte der damalige französische Staatschef Jacques Chirac 1995 Zollbeamte und Grenzpolizisten los, um am Kontrollpunkt Rekkem zwischen Frankreich und Belgien Drogenhändler zu stoppen. Auch während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde an deutschen Grenzübergängen kontrolliert, um Hooligans keine Chance zur Einreise zu geben.

Wenn Mitgliedstaaten des Schengen-Raums vorübergehend wieder Grenzkontrollen einführen, können sie sich auf Artikel 23 im Schengen-Grenzkodex berufen. Danach ist es möglich, dass ein Mitgliedsland „im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ wieder Personen an den Grenzen kontrolliert. Die Kontrollen dürfen sich aber höchstens auf einen Zeitraum von 30 Tagen erstrecken – oder solange, wie die „schwerwiegende Bedrohung“ anhält. Nach allgemeiner Lesart lässt sich durch diesen Gummi-Paragrafen aber nicht rechtfertigen, dass Flüchtlingen der Grenzübertritt verwehrt wird. Wie der Schengen-Vertrag einem möglichen Massenzustrom von Flüchtlingen Rechnung tragen könnte, ist noch offen. Nach der Ansicht von EU-Diplomaten ist es denkbar, in einem zusätzlichen Artikel des Schengen-Grenzkodex auf die Flüchtlingsfrage einzugehen.

Welche Haltung vertritt die Bundesregierung?

Die Bundesregierung möchte verhindern, dass die Reisefreiheit durch eine Neufassung des Schengen-Abkommens eingeschränkt wird. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sieht in der Reisefreiheit eine „wichtige Errungenschaft“, die man „nicht zur Disposition“ stellen dürfe. Im Innenministerium hat man allerdings durchaus ein offenes Ohr für die von Sarkozy und Berlusconi gewünschte Möglichkeit verstärkter Kontrollen. So sagte Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) der französischen Zeitung „Le Figaro“, dass es sinnvoll sei, das Schengen-System zu verstärken, „um Ausnahmesituationen zu begegnen“.

Wann kommt es zu einer Entscheidung über eine Neuregelung von Schengen?

In Brüssel gilt das heutige Treffen der Innenminister in der Diskussion um eine Neufassung des Schengen-Abkommens nur als Zwischenschritt. Statt der Innenminister dürften die Staats- und Regierungschefs der EU Ende Juni einen Beschluss über eine Neuregelung fassen. Auch aus einem anderen Grund ist es wenig wahrscheinlich, dass die Innenminister bereits heute in Brüssel eine Regelung vereinbaren: Am Sonntag und Montag stehen in Italien Kommunalwahlen an. Die Lega Nord, der Koalitionspartner von Italiens Regierungschef Berlusconi, möchte dabei aus ihrer Warnung vor den Flüchtlingen aus Nordafrika gerne auch politisches Kapital schlagen. Und je länger dabei die Diskussion um die Flüchtlinge auf europäischer Ebene weiter köchelt, umso mehr Stimmen könnte die Lega Nord am Ende einfahren.

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