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Die Drag Queen Olivia Jones zusammen mit anderen Mitgliedern der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten 2017

© imago/Pacific Press Agency

Identität gegen Soziales?: So könnte die SPD von der Identitätsdebatte sogar profitieren

Sozialdemokratische Gesellschaftspolitik bekämpft Benachteiligungen aller Art. Wolfgang Thierse und seine Kritiker haben viel gemeinsam. Ein Gastbeitrag.

Lars Castellucci ist Bundestagsabgeordneter der SPD und integrationspolitischer Sprecher der Fraktion.

Alle sind genervt, um das mindeste zu sagen. Gerade erst wird der Entwurf des Wahlprogramms präsentiert. Gerade erst veröffentlicht der Kanzlerkandidat einen Text zum Thema “Respekt”, der eigentlich die Lösung präsentiert, nämlich allseitigen Respekt. Da plötzlich tobt ein Streit in der SPD, der gekonnt von all dem ablenkt.

Als Verschwörungstheoretiker würde man beginnen nachzudenken, ob fremde Geheimdienste am Werke sind, die die Partei immer wieder davon abbringen, die Erfolge einer guten Regierungsarbeit sichtbar zu machen und, wichtiger noch, den Wählerinnen und Wählern Orientierung zu bieten.

Aber nein, das schaffen wir schon selbst. Und das hat, Spaß beiseite, einen Grund: Weil Themen, die nun einmal da sind, eben ihren Platz einfordern. Auch und gerade in der SPD, die diese Debatte gerade stellvertretend für die Gesellschaft führt.

Die SPD ist noch immer ein Spiegel der Gesellschaft

Dass es so heftig  geschieht, ist ein Zeichen dafür, dass es auch tatsächlich um etwas geht, vielleicht sogar etwas, das zu lange unausgesprochen geblieben ist. Aber dass überhaupt unterschiedliche Stimmen laut werden, lässt sich tatsächlich positiv umdeuten: Die SPD ist, immer noch, ein Spiegel der Gesellschaft, mit einigen trüb gewordenen Teilflächen vielleicht, allen Unkenrufen zum trotz aber eben doch eine Volkspartei.

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Volksparteien vereinen in sich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, die gemeinsame Werte vertreten und die für gemeinsame Ziele  arbeiten. Das mit den Unterschieden klappt gut, das mit der Gemeinsamkeit weniger. Und hier zeigt sich schon, worum es eigentlich gehen muss – in der Debatte über Identitätspolitik in der SPD, aber eben auch im ganzen Land. Wenn alle einfach weiterstreiten, wird niemand erfolgreich seine Ziele erreichen können. Es kommt nun darauf an, zusammenzuführen. Gerechtigkeit ist dafür die Klammer.

Die Wirkungen unterschiedlicher Benachteiligungen sind die gleichen 

Und das geht. Die SPD selbst hat es immer bewiesen. Wer käme heute noch drauf, dass der Gründer der Bewegung, Ferdinand Lassalle, Unternehmersohn war. Schon vor Godesberg war die SPD ein Bündnis, getragen vom Handwerk, zunehmend der Arbeiterschaft aber auch von Intellektuellen. Wie gelingt so etwas? Zunächst, indem man dazu einlädt. Als Ferdinand Lassalle gefragt wurde, wer denn der sogenannte "kleine Mann" sei, für den die neue Bewegung gegründet werde, antwortete er: „Das sind die unteren neunzig Prozent.“

Und dann braucht man eine Idee. Eine Idee, die vereint. Eine Idee von der Zukunft, die für alle ein Versprechen enthält, Raum bietet, Sehnsüchte anspricht. Damals war das die Demokratie. Unter den Intellektuellen waren viele Revolutionäre, die schon 1848 für Freiheit und Demokratie gekämpft hatten. Und für alle anderen war Demokratie der Weg, Mehrheiten für ihre Anliegen und Interessen zu erreichen. Demokratie war (und ist) etwas für alle.

Lars Castellucci sieht das Verbindende: Seine Professur für Integrations- und Diversity Management an der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim ruht derzeit aufgrund seines Mandats

© Marijan Murat/dpa

Heute kann Gerechtigkeit die Idee sein, die vereint. Denn es ist letztlich egal, ob man nun keine Wohnung bekommt, weil man sie sich nicht leisten kann, oder weil man ein Kopftuch trägt oder mit einem/r Partner/in gleichen Geschlechts einziehen will. Die Ursachen von Benachteiligungen sind verschieden, die Wirkungen sind die gleichen, nämlich dass Menschen unter ihren Möglichkeiten bleiben und ihrer Träume beraubt.

Die Antwort lautet: Mehr Gleichheit wagen

Gerechtigkeit ist die Klammer für eine linke Politik, die sich damit nicht abfinden will. Deshalb ist die Debatte um die sogenannte Identitätspolitik in der SPD auch am richtigen Platz. Die Antwort muss sein: Mehr Gleichheit wagen. Nein, nicht „Gleichmacherei“, wie dieser Begriff immer wieder diffamiert wird. Sondern gleiche Würde, gleiche Rechte, gleiche Freiheit, gleiche Zugänge und Chancen und immer neue Chancen und zwar für alle. Wie das genau aussehen und wie wir das gemeinsam erreichen können, ist die eigentliche Diskussion, die wir führen müssen.

Deshalb ist es so wichtig, dass Olaf Scholz begonnen hat, von der “Zukunft” zu sprechen, Zukunftsgespräche führt, Zukunftsmissionen entwirft. Denn nicht nur der SPD, dem ganzen Land fehlt es an Orientierung, wo es hingehen soll. Was waren nochmal unsere gemeinsamen Ziele, wenn gerade keine Fußballweltmeisterschaft ist?

Je weniger man weiß, wo man gemeinsam hin will, umso bedeutsamer wird, wer zuletzt den Geschirrspülautomaten ausgeräumt hat. Positive Bilder hingegen, wie wir in Zukunft gut miteinander zusammenleben, als freie und gleiche Menschen, und was Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und wir alle dazu beitragen können, lassen Probleme und Ungerechtigkeiten von heute nicht verschwinden. Aber sie setzen Dynamiken frei, Kreativität und Einsatzbereitschaft, die es braucht, um Verbesserungen für alle zu erreichen.

Die Wut hat ihren Grund

Es ist viel Wut im Spiel. Die hat jedoch ihren Grund, oftmals einen sozialen, aber eben nicht nur, wenn etwa die Chancen am Arbeitsmarkt vom Geschlecht, der Art der Religionsausübung und anderem mit abhängen. Diskriminierung oder Ausgrenzungserfahrungen von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechteridentität oder Religion sind Alltag für viele Menschen. Sie gehören benannt und sie gehören bekämpft. Das muss klar sein, bevor irgendjemand weiter streitet.

Die Linke hat immer für Gerechtigkeit gekämpft, dass Armut eine Grenze und Reichtum ein Maß habe. Dabei hat es Erfolge und Rückschritte gegeben. Im Ergebnis hat die Ungleichheit im Lande erschreckende Ausmaße angenommen. Viele strampeln sich ab und kommen auf keinen grünen Zweig. Hier liegt – leider – weiterhin oder erneut die Hauptaufgabe.

Und gleichzeitig ist der Kampf der Linken immer einer für gleiche Rechte (und Pflichten) für alle Menschen gewesen, unabhängig von irgendwelchen Merkmalen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, es geht um ein Und. Dabei ist es selbstverständlich, dass sich Gruppen zunächst bilden und unter sich solidarisieren müssen. Um etwas im Leben zu erreichen, braucht es dann aber meist die Solidarität und Unterstützung auch von anderen.

Das zu organisieren ist Aufgabe linker Volksparteien. Eine Integrationsleistung, die mit der zunehmenden Vielfalt immer schwieriger und gleichzeitig immer wichtiger wird. So, wie es gerade läuft, geraten nur Gruppen gegeneinander in Stellung, die verbündet, solidarisch, gemeinsam eine Menge erreichen könnten.

Die Gegner stehen doch ganz woanders, vor allem ganz rechts, wo man davon lebt, Gruppen gegeneinander zu stellen. Deshalb ist es Zeit für einen Ordnungsruf in alle Richtungen! Sprechen wir statt von Identitätspolitik wieder von Gesellschaftspolitik! Hier treffen sich Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik mit Fragen von Gleichstellung unter dem Ziel, allen ein eigenständiges Leben zu ermöglichen, das ihren Talenten und Träumen möglichst nahekommt.

Gesellschaftspolitik macht auch deutlich, worum es gehen muss, nämlich ums Ganze. Um das gute Zusammenleben, das mehr ist als ein gutes Nebeneinander, sondern wieder stärker zu einem Miteinander werden muss. Nicht nur in der SPD.

Lars Castellucci

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