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Im Libanon leben rund 1,5 Millionen Syrer, viele von ihnen in der Bekaa-Ebene. Die wirtschaftliche Not ist groß.

© Marwan Naamani/dpa

„So wenig Hoffnung für so viele Leute“: Wie hart Pandemie und Wirtschaftskrise syrische Flüchtlinge im Libanon treffen

Beengte Verhältnisse in Zeltstädten, Angst vor Corona und keine Arbeit: Nina Hager arbeitet im Libanon mit Geflüchteten. Ein Interview über die Lage vor Ort.

Ein Wirtschaftskollaps, eine globale Pandemie – und dann detonierte im Sommer 2020 auch noch eine riesige Menge Ammoniumnitrat mitten in der Hauptstadt Beirut. Die Situation im Libanon ist denkbar schwierig. Allein das libanesische Pfund hat innerhalb weniger Monate 80 Prozent seines Werts verloren.

Das hat Folgen für die Ärmsten im Land, auch für 15,9 Prozent der syrischen Flüchtlinge. Denn der Libanon ist nach der Türkei das zweitgrößte Aufnahmeland syrischer Flüchtlinge – 1,5 Millionen leben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im Libanon.

Auf sieben Einwohner:innen kommt eine geflüchtete Person – damit hat das Land im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen.

Seit eineinhalb Jahren koordiniert Nina Hager Flüchtlingsarbeit in der libanesischen Bekaa-Ebene, unweit der syrischen Grenze. Sie arbeitet für den UNHCR als Junior Professional Officer, ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinderschutz und Community-Arbeit in einem Zeltcamp für Geflüchtete. Im Telefoninterview berichtet sie über die Lage zehn Jahre nach Beginn des Syrien-Konflikts.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller hat den Syrienkonflikt anlässlich des zehnten Jahrestags „die größte Tragödie dieses Jahrhunderts“ genannt. Stimmen Sie ihm zu?
Die Lage ist sehr, sehr schwer für die Menschen und verschlimmert sich jeden Tag. Vielen vor Ort erscheint sie ausweglos. Es gibt hier so wenig Hoffnung für so viele Leute, keine Stabilität und kaum Jobmöglichkeiten. Derzeit schließen immer mehr Geschäfte, weil sich wegen der Inflation kaum jemand mehr die Sachen leisten kann.

Corona hat die wirtschaftlich sowieso schwierige Lage noch viel schwieriger gemacht. Ich weiß nicht, wie die Situation in anderen Ländern ist, aber hier im Libanon ist sie dramatisch.

Nina Hager arbeitet für den UNHCR.
Nina Hager arbeitet für den UNHCR.

© Haidar El Saffer

Was bedeutet das konkret für die Geflüchteten vor Ort?
Wir hören mittlerweile tatsächlich viel von Hunger, also dass Leute sich nicht mehr ausreichend Lebensmittel kaufen können. Sie fangen an, Essen zu rationieren, damit sie ihre Familien durchbringen können. Viele Frauen essen weniger, damit ihre Kinder genug haben. UNHCR versucht hier durch verschiedene Programme gegenzusteuern, aber der Bedarf übersteigt die Möglichkeiten der humanitären Organisation bei weitem. 

Hinzu kommt die Corona-Situation: Seit Monaten harren die Flüchtlinge hier in einer Art Lockdown aus. Das verschärft die Probleme in den Camps. Der Stress unter den Leuten, der mentale Druck nimmt zu.

Es gibt kaum Jobmöglichkeiten, die Schulsituation ist sehr, sehr schwierig. Man hört immer mehr über Spannungen in den Haushalten – bis hin zu häuslicher Gewalt.

Die Leute haben keine Arbeit, sitzen den ganzen Tag in den Zelten, die Kinder können nicht zur Schule. Das ist eine riesige Herausforderung für die Familien, vor allem für die Frauen. Sie wissen teilweise einfach nicht, wie sie ihre Familien durchbringen sollen.

Findet während des Lockdowns Schulunterricht statt?
Viele Schulen haben auf Online-Unterricht umgestellt. In manchen Familien gibt es aber nur ein Handy für fünf oder sechs Kinder. Es gibt nicht genug Elektrizität, nicht genug Internet, um dem Unterricht folgen zu können. Die Kinder haben keine Stifte, keine Papiere. Und es gibt in den Zelten keine ruhigen Orte, an denen die Kinder sich konzentrieren könnten.

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Klingt, als seien die Wohnverhältnisse beengt.
Ein Großteil der Geflüchteten lebt in Zelten, für die sie Miete zahlen. Die Zelte stehen auf gemieteten Flächen. Sie bieten den Leuten Wohnraum, also die Möglichkeit zu schlafen und zu kochen. Aber sie sind nicht darauf ausgerichtet, dass fünf bis acht Leute den gesamten Tag darin verbringen. Das macht es sehr anstrengend und stressig für die Menschen. Sie können wenig raus, zumal viele Angst haben, sich mit dem Coronavirus zu infizieren.

Wie kommt das Land mit der Pandemie selbst klar?
Wir befinden uns hier in einem langsam gelockerten, aber stetigen Lockdown, da das Gesundheitssystem stark strapaziert ist. Die Krankenhäuser haben kaum Kapazitäten, weitere Corona-Kranke aufzunehmen. Das schürt bei den Geflüchteten die – unseres Wissens nicht berechtigte – Angst, bei der Aufnahme in Krankenhäuser gegenüber Libanes:innen benachteiligt zu werden. Uns ist nicht bekannt, dass das schon mal vorgekommen wäre, aber die Angst der Geflüchteten ist da.

Geflüchtete Familien aus Syrien in der Beeka-Ebene im Libanon.
Geflüchtete Familien aus Syrien in der Beeka-Ebene im Libanon.

© imago images/auslöser-photographie

Ändern die Pandemie und die sich immer weiter zuspitzende wirtschaftliche Lage etwas an dem Verhältnis zwischen den syrischen Flüchtlingen und den Libanesen?
Das ist ein sensibles Thema. Im Zuge der Pandemie haben wir gehört, die Beziehung zwischen den Syrern und den Libanesen verbessere sich: Alle sind gleich stark von dem Virus betroffen, plötzlich sitzen alle im selben Boot. Zugleich verschlechtert sich die ökonomische Lage, Jobs und Ressourcen sind knapp, da gibt es Konkurrenz. Die Situation ist sicher nicht konfliktfrei, trotzdem leben beide Gruppen weitgehend friedlich miteinander.

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Haben Sie Hoffnung, dass die Situation der Geflüchteten im Libanon sich zeitnah verbessert?
Nein, im Gegenteil. Momentan gehen wir davon aus, dass sie sich weiter verschlechtern wird. Unter den Flüchtlingen ist Hoffnungslosigkeit zu spüren. Immerhin: Zumindest hier in der Bekaa-Ebene gibt es einen Hauch von Hoffnung, denn die Region ist landwirtschaftlich geprägt. Viele syrische Geflüchtete arbeiten auf den Feldern. Bald beginnt die Saison wieder, in den kommenden Monaten wird es also zumindest etwas einfacher.

Ansonsten hängt vieles von den Impfungen ab, die dazu führen könnten, dass das Land sich wieder öffnen und die Wirtschaft etwas in Schwung kommt. Das wäre dem Land sehr zu wünschen, denn es hat so viel Potenzial: Es gibt Sonne, Wind, Berge, Meer, sehr gut ausgebildete Leute. Und ein System, das eigentlich gut funktionieren könnte. Es ist unglaublich schade, das Land so verfallen zu sehen.

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