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Müntefering

© Imago

SPD-Krise: Franz Müntefering: Das Unheil des Heiligen

Die Erwartungen waren riesengroß. Franz Müntefering sollte die Sozialdemokraten aus dem Tal der Depressionen führen. Nun aber sieht sich die SPD zu einer brutalen Einsicht gezwungen: Selbst einer wie er kann das Ruder nicht herumreißen.

Vorschussbeifall für den SPD-Vorsitzenden, als er – blaues Hemd und wehender Schlips – mit viel Verspätung im niedersächsischen Gifhorn auf dem Marktplatz eintrifft. Einer von rund 40 Auftritten im Vier-Wochen-Endspurt des Wahlkampfs. Ein Heimspiel, das Städtchen liegt im Wahlkreis von SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, aber die 500 Zuschauer warten seit über einer Stunde auf Franz Müntefering. Keine Frage: Der erreicht die Leute. Sie kichern und lachen an den richtigen Stellen, etwa, wenn der Wahlkämpfer seine Rede unterbrechen muss, als es vom Rathaus sechs Uhr schlägt: „Das hast du wohl extra bestellt, Hubertus, bei dir waren’s ja nur zwei Schläge.“ Das Publikum klatscht wohlwollend, wenn er über die politische Konkurrenz herzieht. Oder heftig, zum Beispiel, wenn es um die Demokratie geht und Müntefering erst sagt: „Die Menschen sind nicht gleich, weiß Gott.“ Um dann zu rufen: „Aber wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Alle Menschen sind gleich viel wert.“

Müntefering hat verinnerlicht, was Helmut Schmidt einmal gesagt hat: Wer nicht bereit ist, das Gleiche hundertmal zu sagen, der soll nicht Politiker werden. Der SPD-Chef hat manches schon tausendmal gesagt. Trotzdem: Die Sache mit der organisierten Solidarität hören die Leute in Gifhorn von ihm zum ersten Mal, und so muss sie dann auch klingen. Da steht der Wahlkämpfer, der das kann – den 27. September fest im Blick und die Wähler, die seine Partei mobilisieren muss, um Union und FDP die schwarz-gelbe Regierung zu verhageln.

Als vor ihm und danach die anderen reden, Heil und der Gewerkschaftschef, nimmt Müntefering auf der Bühne die vorgesehene Haltung an. Händeklatschen und Lächeln im passenden Moment, entschlossener Blick. Wahlkampfroutine. Die Mundwinkel zeigen nach unten, nichts Besonders in diesem Gesicht mit den scharfen Falten. So hat er auch am Sonntag der Landtagswahlen im Willy-Brandt-Haus ausgesehen, als er, von Beifall getragen, endlich einmal ein Debakel der CDU verkünden konnte. Doch die hundertfach auf Parteitagspodien und Wahlkampfbühnen gezeigte Siegespose kommt an diesem Abend nicht spontan, nicht triumphal daher. Verzögert und nur für einen Moment zeigt Müntefering die geballten Hände mit den hoch gereckten Daumen. Davontragen vom Rauschhaften eines Wahlkampfs, wie noch vor vier Jahren, lässt sich dieser Müntefering nicht. Da steht der Vorsitzende der SPD, der an die Zeit nach dem 27. September denkt, in der es darum gehen wird, wie die angeschlagene Volkspartei zu neuen politischen Optionen aufbricht.

Niederlagen säumen seinen Weg. Ein Jahr ist es her, seit Franz Müntefering zu Hause in Bonn angerufen wurde mit der Bitte, wieder Vorsitzender der SPD zu werden. Zehn Minuten Bedenkzeit, dann die Zusage an Frank-Walter Steinmeier, ihm zu helfen. Müntefering schildert lakonisch einen Vorgang, der einen etwas überraschten Privatmann wieder auf die große Bühne befördert hat. An jenem sonnigen Sonntag hat sein Vorgänger die SPD-Klausur am Schwielowsee durch die Hintertür verlassen. Kurt Beck, der Steinmeier dort mit fester Hand auf den Schild heben wollte, war zurückgetreten. Denn der war schon vorher im „Spiegel“ als Kandidat ausgerufen worden.

Die Rückkehr von Becks Vor-Vorgänger hat die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt kaum mehr überrascht. Denn vier Tage vor der Klausur am Schwielowsee hatte Müntefering mit einem fulminanten Auftritt in einem Münchner Bierkeller geradezu Heilsbringer-Erwartungen bei seinen depressiven Genossen geweckt: So kann SPD sich anfühlen? Begeisternd, mutig, vorneweg? Es war offensichtlich, dass dieser Mann, der elf Monate zuvor seiner schwer kranken Frau zuliebe als Vizekanzler zurückgetreten war, nach ihrem Tod wieder eine Hauptrolle in der SPD spielen wollte und, ganz anders als der glücklose Beck, auch spielen konnte. Was Müntefering in diesen zehn Minuten eigentlich noch überlegen musste, fragte damals ironisch eine Zeitung.

Es gehört zur ganzen Geschichte, dass Beck SPD-Vorsitzender überhaupt nur werden musste, weil sein Vorgänger Matthias Platzeck nach wenigen Monaten im Frühjahr 2006 das Handtuch geworfen hatte. Und Platzeck wiederum konnte in dieses Amt bekanntlich nur deshalb aufsteigen, weil Müntefering im November 2005 davon zurückgetreten war, mitten in den Verhandlungen um die große Koalition.

Damit hat der Müntefering doch das ganze Unheil ausgelöst, sagt heute ein Spitzengenosse, der seinerzeit im Chor mitgesungen hat, dass es die böse Andrea Nahles war, die „Münte“ meuchelte. Der musste in den letzten zwölf Monaten in voller Breite durchleben, dass die geschichtsträchtige SPD eine Partei mit Vergangenheiten ist, die ausgebadet werden müssen. Zum Beispiel Becks Hinterlassenschaften, dumme Fehler, typisch SPD, aus unrealistischen Träumen geboren, die von einer Führung mit etwas mehr Verstandeskühle leicht hätten gezügelt werden können: die unglückliche Präsidentschaftskandidatur von Gesine Schwan, das schauerliche Drama in Hessen, das die gesamte SPD Glaubwürdigkeit gekostet hat.

Doch das ist halbwegs ausgestanden, als der vormalige Heilsbringer vor drei Monaten den wohl bittersten Moment sozialdemokratischer Wahlgeschichte in der Bundesrepublik erlebt. 20,8 Prozent bei der Europawahl, bei der alle Erwartungen, sogar die der Demoskopen, auf ein ordentliches Plus gerichtet waren. Die SPD und ihr Vorsitzender, ratlos. Da ging es nicht um Beck’sche Hinterlassenschaften. Da wirkten vier großkoalitionäre Jahre nach und sieben rot-grüne. Und die langen Oppositionsjahre davor, in denen bei der SPD die Fetzen flogen, um Macht und Posten gestritten wurde, nicht aber um Positionen und Politik. Seit 1995 in Spitzenfunktionen dabei: Franz Müntefering, Generalsekretär, Fraktionschef, Parteivorsitzender, Vizekanzler und wieder Parteichef.

Schon vor der Europa-Wahl hat der alt-neue Vorsitzende die hohen Erwartungen an seine Rückkehr enttäuscht. „Münte war ja zeitweise so etwas wie ein Heiliger“, spotten führende Christdemokraten nach dem sozialdemokratischen Machtwechsel bald, mit Lust an der Vergangenheitsform. Stirnrunzeln auch in den eigenen Reihen über Münteferings Attacken auf die beliebte Kanzlerin, als deren Vizekanzler er konstruktiv regiert hat. Bis ins Frühjahr hinein beherrschen Finanzkrise und Krisenmanagement die politische Agenda. Die Sozialdemokraten Steinbrück und Steinmeier räumen zusammen mit der Kanzlerin fleißig auf. Doch wenn „die Luft schwirrt von sozialdemokratischen Fragen“, wie Müntefering zu Beginn der Finanzkrise gern sagt, dann kommt bei der SPD davon nichts an. Aufwind hat die Kanzlerin, hat die FDP.

Müntefering, der 2004 das Wort von den „Heuschrecken“ auf den Finanzmärkten geprägt hat, agiert in den Monaten des Krisenschocks im Hintergrund. Die SPD-Zentrale wird auf Wahlkampf eingestellt. Fast augenblicklich verstummen die vorher allgegenwärtigen Streitereien, stattdessen Loyalität und Harmonie in der Führung. Zustimmung zu einem nach links gerückten Regierungsprogramm in allen Flügeln der SPD. „Münte“ tourt durch die SPD.

Alles funktioniert, doch nichts schlägt Funken. Die sozialdemokratischen Antworten auf die offenen Fragen missglücken. Der zur Nummer eins erklärte Steinmeier läuft sich warm, zum Zugpferd wird er nicht. Müntefering hört man wenig, den Kanzlerkandidaten zu laut. Als der diplomatische Außenminister vor den zu rettenden Opel-Arbeitern als agitierender Innenpolitiker auftritt, entsteht eine heftige Irritation, zulasten seiner Popularität. Der als Finanzminister weithin respektierte Rabauke Steinbrück bekommt Konkurrenz durch den Aufsteiger des Jahres, den smarten Wirtschaftsminister von der CSU, Karl-Theodor zu Guttenberg. Und immer wieder: Umfragen, die Schwarz-Gelb auf Siegeskurs sehen und die SPD im 20-Prozent-Ghetto einmauern.

Müntefering ist keiner, der sich Verunsicherungen anmerken ließe. Er hat schon zweimal in Wahlkämpfen den Druck einer Aussichtslosigkeit ausgehalten, in der alle Fragen nur Varianten einer einzigen werden: Bei diesen Umfragen – wie soll das denn noch was werden? Während sich ringsum in der SPD Verzweiflung breitmacht, schaltet er auf stur, lässt aus dem Willy-Brandt-Haus das Mantra verbreiten: Am 7. Juni, bei der Europawahl, wird man sehen, wie abends um sechs die roten Balken bei der Hochrechnung nach oben gehen und die schwarzen nach unten.

Und dann: 20 Prozent. Der vormalige Heilsbringer verliert am Tag der Europawahl auch noch den Mythos des Machers, der „Wahlkampf kann“, der 1998, 2002 und noch einmal 2005, aus aussichtsloser Position, die SPD auf die Regierungsbänke gebracht hat. In diesem Juni gerät Müntefering außer Tritt. Es wird hinter vorgehaltener Hand geredet und getuschelt, und die neue Freundin ist dabei weniger wichtig als die Frage, ob „Münte“ nicht einfach überschätzt und doch nur der ewige Generalsekretär sei. Planspiele machen die Runde, Szenarien über den Tag nach der Bundestagswahl. Die SPD in der Opposition, Machtkämpfe um die künftige Führung, in denen der 69-jährige Müntefering nicht vorkommt. Er kündigt seine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz im November an. Die Parteilinke und Vize-Vorsitzende Andrea Nahles bemerkt spitz, dass bis dahin noch größere Probleme gelöst werden müssten. Die Popularität des SPD-Kanzlerkandidaten fällt nun kilometerweit hinter die der präsidentiell strahlenden Kanzlerin zurück.

Doch der Müntefering, den man nach den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen im Willy-Brandt-Haus antrifft, entspricht wieder ganz dem Heine-Zitat, das er seinen Töchtern auf den Weg gegeben hat: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht.“ Er ist erstaunlich gelassen, konzentriert, gesammelt.

Im Fundus seiner berühmten Kurzsätze kommen die Formeln „auf der Strecke“ und „an der Stelle“ besonders häufig vor. Am Montag nach den Landtagswahlen hat er die Sozialdemokraten „an der strategischen Stelle“ neu platziert. Er gewichtet die möglichen rot-rot-grünen Koalitionen deutlich höher als die in beiden Ländern möglichen Regierungsbündnisse mit der CDU. Die Zusammenarbeit im Bund bleibt unmöglich – für 2009. Aber beim nächsten Mal, 2013, könnte sie möglich werden.

Das verkündet der amtierende SPD-Chef und letzte Verbliebene einer sozialdemokratischen Führungsgeneration, deren Bilanz, sieht man nur auf die SPD, in einen einzigen Satz gefasst werden kann: Nach elf Regierungsjahren hat die SPD so viele Mitglieder, so viel Einfluss und Überzeugungskraft verloren, dass in Deutschland Platz geworden ist für eine neue Partei, links neben ihr. Die Scharpings, Clements, Schröders sind längst abgetreten und dürfen als Zuschauer mit ansehen, wie der große Abtrünnige, wie Oskar Lafontaine mit seiner Linken der SPD das Wasser abgräbt.

Müntefering sieht kalkuliert auf das, was für seine Partei kommen muss und für den gefeierten Ex-SPD-Chef nur noch kommen kann. Nämlich nicht sehr viel, nachdem er die Nummer eins in Saarbrücken nicht geworden ist. „Ich freue mich, dass wir durch unser Ergebnis der SPD eine neue Machtperspektive eröffnet haben“, hat Lafontaine am Wahlabend boshaft in Richtung SPD gespottet. Müntefering zuckt dazu mit den Schultern, als wolle er sagen: Ja, eben, und dann muss der Mohr wohl bald gehen.

Es gibt Momente, in der in der SPD die langen Erfahrungen wirken. Ins 30-Prozent-Ghetto ist die SPD neben den aufsteigenden Grünen abgesunken, bevor ein Sozialdemokrat 1998 wieder ins Kanzleramt einziehen konnte – im Bündnis mit der vormals verachteten Öko-Partei. „Der Bruderkuss, den sich die PDS und die Westlinken gegeben haben, hat viel aufgehalten in Deutschland“, hat Müntefering schon vor Monaten so öffentlich bemerkt, dass es in der Linken gehört werden musste. Heiko Maas, der in Saarbrücken ein rot-rot-grünes Bündnis ansteuert, war darüber schon vor einem Jahr im Einverständnis mit Müntefering.

Lafontaine ist nicht nur als Person, sondern auch mit seinem brachialen Protestkurs das größte Hindernis einer Zusammenarbeit, von der die handfesten PDS-Realos in den Ländern und in der Berliner Parteizentrale träumen. Müntefering erkennt das politische Talent und Temperament von „Oskar“ so nüchtern an, wie er ihm die Bereitschaft zur Verantwortung ganz und gar abspricht. Wichtig ist das nicht, weil Müntefering den dürren Sechszeiler von 1999 nicht verzeihen kann, den Lafontaine bei seinem plötzlichen Abgang auf dem Schreibtisch des SPD-Parteivorsitzenden hinterlassen hat. Die neue „strategische Stelle“ kann die SPD nur gewinnen, wenn sie die linke Konkurrenz in ein Bündnis treiben kann, in dem das Prinzip Verantwortung gilt.

Nach anderthalb Jahrzehnten an der Spitze der SPD hat Müntefering sich selbst zu einer brutalen Einsicht gezwungen: Die SPD ist nicht mehr, was sie einmal war. Sozialdemokraten, hat er von seinen Vorbildern gelernt, müssen die Wirklichkeit so nehmen, wie sie ist. Aber sie lassen sie nicht so. Wie immer die Bundestagswahl ausgeht, es ist eine schwache SPD, die ihren neuen strategischen Platz sucht. Ein Jahr nach seiner Rückkehr kann niemand sagen, ob das ein Weg mit oder ohne Franz Müntefering ist.

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