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Exklusiv

Studie zu Volksentscheiden: Weniger statt mehr Demokratie?

Volksentscheide auf Bundesebene ja oder nein – darum ringen gerade Union und SPD in den Koalitionsgesprächen. Viele Deutsche wünschen sich diese Form direkter Demokratie. Aber ist sie auch sinnvoll? Eine neue Studie bezweifelt das.

Mehr Demokratie klingt gut. Mehr direkte Demokratie auch. Der deutsche Bürger will den Volksentscheid: Laut einer aktuellen Emnid-Umfrage für den "Focus" sprechen sich 84 Prozent der Deutschen dafür aus. Die breite Zustimmung wird von den Anhängern aller Parteien getragen: Vorneweg die Linken-Wähler mit 95 Prozent, dicht dahinter die der SPD mit 88 Prozent und der Union mit 83 Prozent. Die Politik dagegen ist sich nicht so einig. Volksentscheide auf Bundesebene sind eins der Streitthemen, über die in der kommenden Woche die Parteichefs von Union und SPD entscheiden werden. Vor einer knappen Woche waren SPD- und CSU-Politiker mit dem gemeinsamen Vorschlag vorgeprescht, nationale Volksentscheide unter anderem zu wichtigen europapolitischen Fragen zu ermöglichen. Kurz darauf wurde die scheinbare Einigung von der CDU dementiert. Dort gibt es große Vorbehalte gegen diese Form der Bürgermitbestimmung.

Doch auch in der Demokratieforschung sind längst nicht alle von der Idee begeistert. „Es ist paradox“, warnt Wolfgang Merkel, Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin, „doch wer mehr Demokratie per Volksentscheid fordert, könnte am Ende weniger bekommen.“ Merkel und seine Mitarbeiter haben für die Friedrich Ebert Stiftung (FES) eine Studie erarbeitet, die dem Tagesspiegel vorliegt. Die Demokratieforscher haben empirische Daten aus der Schweiz und Kalifornien (die eine sehr ausgeprägte Kultur der direkten Mitbestimmung haben), Italien, aber auch Bayern und Hamburg ausgewertet. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass Volksabstimmungen „im Vergleich zu Parlamentswahlen eine höhere Selektivität aufweisen“. Sprich: Mittlere und obere Schichten dominieren die Entscheidungen, untere und schlechter gebildete Schichten bleiben zu Hause. Die These, dass nur eine „soziale Schrumpfversion“ des Volkes abstimme, vertritt Merkel schon länger, er sieht sich von den Ergebnissen bestätigt. „Es sind die Situierten und die Informierten der Gesellschaft, die dort abstimmen“, sagt er. Deshalb findet er es rätselhaft, dass gerade Parteien wie die Linke oder die SPD für Volksentscheide auf nationaler Ebene plädieren.

Positiv vermerkt die Studie, dass die Referenden zu einer höheren Identifikation der Menschen mit ihrer Gesellschaft und zu einer größeren politischen Stabilität führten. Damit entkräftet sie wiederum ein wichtiges Argument der Abstimmungsgegner, die als Folge instabile Verhältnisse fürchten. Auch sei die Sorge unbegründet, dass die Menschen immer nur für mehr Ausgaben stimmten. Im Gegenteil: Merkel stellt in der Studie fest, dass es einen „leichten positiven Zusammenhang zwischen Volksabstimmungen und einer geringeren öffentlichen Verschuldung“ gibt. Auch sei die Steuermoral umso höher, je mehr die Bürger selbst über Steuern und Abgaben entscheiden könnten.

Dennoch zieht Merkel das Fazit, die Nachteile eines Bürgerentscheids auf Bundesebene würden die positiven Effekte überwiegen. Besonders kritisch sieht er die Funktion des notwendigen Quorums. Sei es zu hoch, scheiterten zu viele der Abstimmungen. Sei es aber zu niedrig, gerate die Politik in eine „Legitimitätsfalle“. Denn dann würden Abstimmungsergebnisse zu Gesetzen, die eventuell weniger als ein Viertel der stimmberechtigten Bevölkerung wirklich wünschten. „Genau da liegt das Demokratieproblem“, sagt Merkel. „Wenn ein Gesetz im Bundestag eine absolute Mehrheit bekommt, dann repräsentiert das in der Regel einen sehr viel höheren Anteil der Bevölkerung als eine direkte Entscheidung des ,Volkes’“. Eine niedrige Schwelle begünstige daher die Herrschaft gut organisierter Minderheiten. Auch zeigten die Erfahrungen, dass Volksentscheide kein Allheilmittel gegen eine niedrige Wahlbeteiligung sein könnten. Kalifornien und die Schweiz hätten im internationalen Vergleich extrem niedrige Wahlbeteiligungen.

Die Studie wird am Donnerstag (21.11.) ab 19 Uhr im Gebäude der FES präsentiert, im Rahmen einer in Kooperation mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ stattfindenden Podiumsdiskussion zum Thema direkte Demokratie.

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