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Eine zerstörte Straße in Deir Ezzor

© AFP

Update

Syrien: Drei Jahre Bürgerkrieg: "Niemand kann diese Krise ignorieren”

Nach drei Jahren Bürgerkrieg ist das Land ausgeblutet: In Syrien fehlt es an Lebensmitteln, 60 Prozent der Krankenhäuser sind zerstört. Doch es mangelt an Hilfsbereitschaft.

Shadi ist 16 Jahre alt, muss in einem Rollstuhl sitzen und braucht bei allem die Hilfe seiner Familie: auf die Toilette gehen, anziehen, waschen, Zähne putzen. Denn seit sein Dorf mit Granaten beschossen wurde, steckt ein Splitter in Shadis Wirbelsäule. Das Metallstück drückt auf einen Nerv und verursacht eine teilweise Lähmung, sodass der Jugendliche nicht laufen kann. Ärzte könnten den Splitter entfernen und somit Shadi vom Rollstuhl befreien. Eigentlich. Doch in Syrien haben die Mediziner keine Möglichkeit, eine derartige Operation vorzunehmen. Nicht mehr.

Denn im Land ist das einst gut funktionierende Gesundheitssystem weitgehend zusammengebrochen. Eine der vielen dramatischen Folgen des Bürgerkriegs. Aber eine, die nur selten Beachtung findet. Dabei fordert die mangelnde medizinische Versorgung inzwischen weit mehr Opfer als die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Einheiten der Rebellen. Seit dem Beginn des Aufstands gegen Baschar al Assad vor genau drei Jahren sind grob geschätzt mindestens 200 000 Menschen gestorben sind - weil Krankheiten, chronische Leiden und Verletzungen nicht adäquat behandelt werden konnten. Ein jetzt von der Hilfsorganisation Save the Children veröffentlichter Bericht dokumentiert eindrücklich, wie aus einer schlimmen humanitären Krise eine fatale Gesundheitskrise geworden ist.

Die mangelhafte medizinische Versorgung beginnt schon mit der Zahl der Ärzte. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass mittlerweile die Hälfte der syrischen Mediziner aus ihrer Heimat geflohen ist. Im besonders heftig umkämpften Aleppo praktizieren nur noch 36 von einst 5000 Ärzten - für geschätzt 2,5 Millionen Menschen in Not. Weil Fachpersonal fehlt, übernehmen mehr und mehr unerfahrene, nicht ausreichend qualifizierte Kräfte auch schwierige Eingriffe.

Sogar das ungeborene Leben ist schon in Gefahr

Und die finden dann zumeist unter unvorstellbaren Bedingungen statt. So sind 60 Prozent der Krankenhäuser in Syrien zerstört. Oft werden deshalb Keller und Wohnzimmer zu behelfsmäßigen Operationssälen umfunktioniert. Doch selbst die geraten immer wieder unter Beschuss. Es gibt zudem kaum noch Medikamente. Weil Betäubungsmittel fehlen, müssen Patienten mit Metallstangen bewusstlos geschlagen werden. Ein Arzt berichtet: “Jeden Tag kommen Kinder mit kritischen Verbrennungen oder Knochenbrüchen. Sie brauchen komplizierte Operationen, aber dafür sind wir nicht ausgerüstet. Manchmal müssen wir ihnen Gliedmaßen abtrennen, um ihr Leben zu retten.”

Im heutigen Syrien ist sogar das ungeborene Leben bereits in großer Gefahr. Denn werdende Mütter können nicht mehr ausreichend betreut werden. Es fehlen Rettungswagen und Hebammen. Die Kliniken, sofern überhaupt noch vorhanden und für Geburten ausgerüstet, sind häufig nur unter großen Mühen zu erreichen. Ständig gibt es Kontrollen, Straßensperrungen und Gefechte. Dementsprechend ist die Zahl unbetreuter Entbindungen stark angestiegen. Auftretende Komplikationen führen daher oft zu Fehlgeburten. Wie bei Samira. “Ich musste unser Dorf mit meinen vier Kindern verlassen. Ich war im fünften Monat schwanger. Und wir brauchten zwei Monate, um zu einem Zufluchtsort zu gelangen. Als wir ankamen, setzten meine Wehen vorzeitig ein. Es gab kein Krankenhaus und keine Krankenschwester in der Nähe. Nur die anderen Frauen versuchten zu helfen. Mein Baby wurde zu früh geboren. Es lebte nur zwei Stunden.”

Aber selbst wenn es Samira noch rechtzeitig in eine Klinik geschafft hätte - die Überlebenschancen für ihr Kind wären wohl nicht allzu groß gewesen. Die meisten Krankenhäuser sind zu schlecht ausgestattet, um Frühgeborene zu behandeln. Und diejenigen, die trotz der widrigen Umstände überleben, haben kaum Chancen auf einen gesunden Start ins Leben. Ein Impfschutz gegen gefährliche, sich immer mehr ausbreitende Krankheiten wie Masern und Kinderlähmung fehlt ebenso wie nährstoffreiche Babynahrung.

Mehr als 250.000 Enklaven in Syrien ohne ausreichende Nahrung

Doch nicht nur die mangelnde medizinische Versorgung bedroht die Gesundheit der Syrer. Viele leiden auch Hunger. Allein das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) musste im Februar fast vier Millionen Menschen innerhalb des Landes mit dringend benötigten Lebensmitteln versorgen. Nothilfe zu leisten scheint zwar in den vergangenen Wochen etwas einfacher geworden zu sein. Allerdings ist sie weiterhin nicht nur mit erheblichem Aufwand verbunden, sondern mit großen Gefahren für die Helfer.

Und es gibt ungeachtet der jüngsten Resolution der Vereinten Nationen nach wie vor viele Gebiete, die belagert und regelrecht ausgehungert werden. Die UN gehen davon aus, dass mehr als 250.000 Menschen in derartigen Enklaven ohne ausreichende Nahrung dahin vegetieren. “Hunger sollte nie zu einer Waffe werden”, fordert Muhannad Hadi, WFP-Nothilfekoordinator für die Syrienkrise, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Und er betont: “Wir können das Ausmaß des Hungers und der Todesfälle in uns unzugänglichen Regionen nur schätzen.” Ständig verhandele man mit den Konfliktparteien, um notleidende Zivilisten erreichen zu können. “Die neue UN-Resolution, die ja den uneingeschränkten Zutritt fordert, ist da schon hilfreich. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass wir quasi über Nacht plötzlich überall Zutritt haben.”

Aber das Welternährungsprogramm hat wie viele andere Hilfsorganisationen noch mit einem ganz anderen Problem zu kämpfen: Geldmangel. So fehlen der UN-Organisation für 2014 noch 90 Prozent der Mittel, um die Syrien-Programme finanzieren zu können. Bleiben die Zuwendungen aus, muss die Nothilfe bereits in wenigen Wochen um die Hälfte gekürzt werden. Jeder Erwachsene bekäme dann nur noch 1000 Kilokalorien pro Tag – notwendig sind mindestens 2000 Kilokalorien.

Dazu dürfe es nicht kommen, sagt Muhannad Hadi. Der WFP-Nothilfekoordinator sieht die Weltgemeinschaft in der Pflicht. “Wir haben es mit einer internationalen Krise zu tun. Sie betrifft nicht allein Syrien und die Region, sondern die ganze Welt. Niemand kann diese Krise ignorieren.”

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