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Der frühere SS-Mann Oskar Gröning beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in Lüneburg nach der Urteilsverkündung am Mittwoch.

© Bodo Marks/dpa

Urteil im Auschwitz-Prozess: Die massenhafte Schuld blieb viel zu lange ungesühnt

Für vier Jahre muss der ehemalige Buchhalter von Auschwitz Oskar Gröning in Haft. Lange hatte die Justiz versäumt, solche Tatbeiträge zu ahnden. Das ist auch unser aller Versagen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Es war der falsche Ort, einer, an dem er niemals hätte sein dürfen. Da hat Oskar Gröning schon Recht, als er frühzeitig das moralische Urteil über sich sprach und eine Mitschuld am Massenmord von Auschwitz gestand. Nun ist auch das juristische Urteil über ihn gefallen, vier Jahre für Beihilfe zum Mord in hunderttausenden Fällen. Mehr sogar als die Ankläger gefordert hatten.

70 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers hat die Justiz damit zu einer Klarheit gefunden, die sie zuvor vermissen ließ: Wer in dieser Höllenmaschinerie an den Hebeln saß, war ein Mörder, und wer sie am Laufen hielt, ein Mordgehilfe; auch wenn er, wie Gröning, für nachrangige Verwaltungs- oder Ordnungsdienste herangezogen wurde. Die massenhafte Schuld für das massenhafte Sterben blieb massenhaft ungesühnt, weil sich Staatsanwaltschaften und Gerichte viel zu lange um anderes, nach ihrer Ansicht Wichtigeres zu kümmern hatten.

Eine verbreitete Fehlannahme ist dagegen, die Ahndung solcher Tatbeiträge sei erst mit der Verurteilung John Demjanjuks 2011 möglich geworden, der im Vernichtungslager Sobibor Zwangsdienste leisten musste. Schon vorher hatte es Urteile zu Vernichtungslagern gegeben, an denen die Justiz hätte anknüpfen können. Aber sie orientierte sich am Freispruch für den Lagerzahnarzt Willi Schatz, der sich bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz nur „herumgedrückt“ haben will.

Ohne Frage ein Fehler, ein Versäumnis. Aber auch ein Versagen? Nach den Kriegsverbrecherurteilen der Besatzerzeit galt allgemein, es sei genug gestraft worden, bis die Auschwitzprozess diese Annahme als Irrtum entlarvten. Danach war wieder Ruhe, bis die Demjanjuks und die Grönings kamen. Während diese Nachsicht in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik verhängnisvollen Personalkontinuitäten in der Justiz und der Frontenbildung im Kalten Krieg geschuldet war, gab es danach keine Begründung mehr. Es fehlten Initiativen, es gab keine politischen Debatten. Das Versagen der Justiz, die Helfershelfer zu richten - wenn es denn eines wahr -, ist auch unser Versagen, unsere Schuld. Wir haben uns nicht gekümmert.

Grönings Richter betonte in seinem Urteil die „freie Entscheidung“ Grönings, statt an die Front zum Dienst im Lager einzurücken. So hätten auch wir die freie Entscheidung treffen können, das dadurch begangene Unrecht früher aufzuarbeiten und zu ahnden. Nicht erst jetzt, wo die ohnehin schwierige Antwort nach dem Sinn von Strafe noch viel schwieriger zu finden ist. Zu den historischen Lehren des Falles ließe sich deshalb einiges sagen, wichtiger aber erscheinen welche für die Gegenwart: Geschichte ereignet sich nicht in Kapiteln, die Zeit kennt keine Schlussstriche und Verantwortung lässt sich nicht abschieben, weder auf andere Generationen noch auf Politik und Justiz. Was geschieht, ist unsere Entscheidung.

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