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Demonstrationszug durch Rostock-Lichtenhagen, 20 Jahre nach den rechtsextremen Ausschreitungen.

© dpa

Rostocker Ausschreitungen vor 20 Jahren: Versäumte Aufarbeitung: Lichtenhagen steht am Fenster

Gedenken ja, aber bitte nicht so laut: Die Rostocker Anwohner lassen die Demo zur Erinnerung an das Pogrom vor 20 Jahren aus sicherer Distanz über sich ergehen.

Sie haben Kissen dabei oder Kameras, machen Fotos und sprechen in ihr Handy. So hängen sie aus ihren Fenstern und stehen auf ihren kleinen Balkonen, die Lichtenhagener, lugen hinter Gardinen hervor oder stützen sich auf die Mülltonnen vor ihren Häusern. Hunderte sind es, die von den Plattenbauten her zusehen, wie der Demonstrationszug durch ihr Viertel läuft. Die Demonstranten sind hier, um an das Pogrom zu erinnern, bei dem vor 20 Jahren Rechtsradikale und Anwohner eine Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim von Vietnamesen angriffen. Hier, in Rostock-Lichtenhagen. Doch ausgerechnet diejenigen, die hier wohnen, in diesem traumatisierten und verrufenen Stadtteil, die eigentlich ganz vorne mit dabei sein müssten beim Gedenken – sie stehen an ihren Fenstern, statt auf der Straße.

Von dort schallt ihnen entgegen, was sie als Vorwurf verstehen müssen: "Wo, wo, wo wart Ihr 1992?" skandieren die jungen, schwarz gekleideten Aktivisten, die aus ganz Deutschland angereist sind mit Zügen und Sonderbussen. Rund 5000 sind es, Mittags haben sie in der Rostocker Innenstadt demonstriert, nach der Demo gibt es noch ein Konzert, direkt am Sonnenblumenhaus, dem Ort der Ausschreitungen von damals. Es ist die übliche Demo-Karawane, die mit Parolen wie "Nie wieder Deutschland" oder "Nationalismus raus aus den Köpfen" auf den Lippen überall dort Station macht, wo es einen Anlass gibt. Sie sind heute die Auffälligsten und Lautesten in Rostock, sie sind aber auch die Unwichtigsten. Denn spätestens morgen werden sie wieder weg sein.

Bildergalerie: 20 Jahre Pogrom von Rostock-Lichtenhagen

Bleiben werden Rainer Fabian und seine Gäste. Der 59-jährige sitzt in einem niedrigen, bunt angestrichenen Haus zwischen den grauen Plattenbau-Riegeln von Lichtenhagen, direkt an der Demo-Strecke. "Wir wollen diese Demo nicht", sagt Fabian. Er ist Leiter des Kolping-Begegnungszentrums und auch Mitglied bei der Initiative "Lichtenhagen bewegt sich", ein von der Stadt organisierter Zusammenschluss von Institutionen und Initiativen, die auch an die Ausschreitungen erinnern wollen. Nur eben eine Spur leiser, weniger schmerzhaft. Sie haben die Gedenkveranstaltung mit Bundespräsident Joachim Gauck organisiert, die am Sonntag stattfinden wird.

Fabian hat Angst, dass die Linken von außerhalb den Eindruck des friedlichen Protests kaputtmachen könnten. "Dann heißt es, Lichtenhagen, da brennt's ja immer noch", sagt er. Dann muss er auch bald los, in der Hochschule in der Innenstadt werden Reden gehalten und Filme gezeigt zum Jubiläum. Vorher sagt er noch, es sei ja eine Menge passiert in Lichtenhagen seit 1992: Gebäude wurden saniert, Programme gegen Rechts aufgelegt, die Menschen würden gerne hier wohnen. "Wir haben zwar wenig Kultur hier bei uns, aber doch genug Einkaufsmöglichkeiten."

Im Ortsbeirat sitzt ein NPD-Politiker

Bei den vergangenen Wahlen lag die Beteiligung in Lichtenhagen immer um die desaströse Marke von 30 Prozent, im Ortsbeirat sitzt ein NPD-Politiker. Heute immerhin bleiben die Nazis ziemlich unsichtbar. Bis auf einen jungen Glatzkopf, der beim Anblick des riesigen Polizeiaufgebots sagt: "Ach stimmt, heute kommen ja die Zecken."

Dass die Aufarbeitung versäumt wurde, sagen alle. Von den Sozialarbeitern über den ehemaligen Ausländerbeauftragten, bis hin zum Innenminister. Am Mittwoch hat sich die Bürgerschaft entschuldigt für ihr politisches Versagen 1992, das das Progrom mit möglich gemacht hat. Die älteren Anwohner, die in Fabians Begegnungsstätte bei Kaffee und Kuchen sitzen, sagen: "Die Entschuldigung kommt 20 Jahre zu spät, das wären die Politiker den Rostockern früher schuldig gewesen." Sie sagen: den Rostockern. Sie sagen nicht: den Ausländern, die auch von Rostockern angegriffen wurden.

Kaum 200 Meter vom Sonnenblumenhaus entfernt steht der kleine, etwas schäbige Imbiss "Asia Thai". Im Angebot hat er die komplette Fast-Food-Palette, von Bockwurst über Curry bis Döner, den Umsatz scheint aber etwas anderes zu bringen. Darauf deuten die vielen Bierkästen hin, und vor allem der einzelne Mann in Jogginghose, der am Fenster sitzt. Auf dem Sperrholz-Tisch neben ihm reihen sich sechs leere Bierflaschen.

Bei uns hier bist du sicher

Bildergalerie: 20 Jahre Pogrom von Rostock-Lichtenhagen

Hinter der Theke steht Ha Tan, eine zierliche, mittelalte Frau. Die Vietnamesin lebt seit zehn Jahren in Rostock und betreibt mit ihrer Familie diesen Imbiss. Die Ausschreitungen gegen ihre Landsleute 1992 hat sie nicht miterlebt, aber sie kennt Leute, die im auch im Sonnenblumenhaus gefangen waren. Von der Entschuldigung der Bürgerschaft hat sie nichts gehört, die Demo heute fürchtet sie eher, als dass sie auch nur daran denken würde, mitzulaufen. Auch zur Gedenkveranstaltung am Sonntag sagt sie nur mit schüchternem Lächeln: "Zu viel Angst". All das Gedenken, es erreicht sie nicht, es ist eher eine Belastung.

Doch Ha Tan erzählt auch, dass sie noch am Freitag vorhatte, den Imbiss für das ganze Wochenende zuzusperren, aus Sorge vor Problemen. Ihre Stammgäste hielten sie schließlich davon ab. Der Trinker in der Jogginghose und all die anderen Lichtenhagener, die heute nicht auf der Straße demonstrieren, sie sagten der Vietnamesin: Ha Tan, lass den Laden ruhig auf. Bei uns hier bist du sicher.

Quelle: www.zeit.de

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