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Türkische Arbeiter in Berlin-Kreuzberg in den 1970er Jahren

© Ullstein

60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei: „Vieles wird nicht als Teil der eigenen Geschichte begriffen“

Die Migrationshistorikerin Maria Alexopoulou über das Besondere der türkischen Einwanderung und warum Demokratien sich ungern ihren Rassismus eingestehen.

Die Bundesrepublik schloss schon 1955 den ersten Anwerbevertrag mit Italien. Lässt sich die türkische Arbeitsmigration ab 1961 da überhaupt als etwas Besonderes ansehen?
In der Geschichte von Einwanderungen haben die größten Gruppen – und das ist in Deutschland die türkeistämmige – immer eine besondere Rolle. Aber die Erzählung von einer Stunde Null der Einwanderung stimmt sowieso nicht. Auch der Vertrag mit Italien war das nicht. Es gab bereits 1938 ein Anwerbeabkommen zwischen NS-Deutschland und dem faschistischen Italien, tatsächliche und starke Einwanderung von dort nach Deutschland gab es sehr viel länger. Und in den zehn Jahren zwischen dem Ende des Kriegs und dem Anwerbevertrag von 1955 waren sehr viele Displaced Persons im Land, von denen ein geringer Teil auch dauerhaft blieb…

.. also nichtdeutsche Geflüchtete, ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter:innen,
… für die sogar das Ausländerrecht aus der NS-Zeit teils wieder in Kraft gesetzt wurde. Natürlich war es nun ein demokratischer Staat, der Menschen aus dem Ausland abwarb. Aber dass dies den Deutschen etwas völlig Neues war, ist ein Riesenkonstrukt.

Dass die Türkei als nichteuropäisches Land galt, hat also keine Rolle gespielt?
Es gab bereits Absprachen zwischen den Innenministern von Bund und Ländern, die man klar als rassistisch ansehen muss, nämlich keine Außereuropäer:innen anzuwerben. Es war von “afroasiatischen” Menschen die Rede. Federführend war der damalige baden-württembergische Innenminister Hans Filbinger.

… der später als Ministerpräsident über seine Karriere als NS-Marinerichter stürzte.
Dennoch wurde für das Nato-Mitglied Türkei wie für Marokko und Tunesien aus außenpolitischen Gründen Ausnahmen gemacht. In der Öffentlichkeit wurde aber sonst damals nicht besonders differenziert, man sprach allgemein von Ausländern, Südländern. Differenzierter wird diese Sicht erst in den 1980ern und 90ern.  Damals wurde das auch rechtlich relevant, weil EU-Bürger:innen das kommunale Wahlrecht bekamen, von dem bis heute ausgeschlossen ist, wer keinen EU-Pass hat. Auch der Islam, der mit den türkeistämmigen Eingewanderten verbunden wurde, wurde wirklich relevant erst mit 9/11, als eine Religion, die unerwünscht war, weil sie als politisch gefährlich galt. 

Maria Alexopoulou
Maria Alexopoulou

© privat

Die Vorstellung eines kompletten Neuanfangs der Einwanderung haben Sie eben als großes Konstrukt bezeichnet. Auch dass die Sicht auf türkische Einwanderer grundlegend anders war. Gibt es weitere Mythen aus Ihrer Sicht?
Ein wesentlicher ist der doppelte Rückkehrmythos. Dass nämlich die Bundesrepublik keine dauernde Einwanderung wünschte und die Eingewanderten ebenfalls zurückwollten. Das stimmt für die deutsche Politik und die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, aber nicht für alle, die da waren. Jedenfalls für einen beträchtlichen Teil nicht.

Das ist aber auch das, was viele Migrant:innen und ihre Kinder selbst berichten: Dass die Rückkehr geplant war, immer wieder verschoben wurde.
Migration ist an sich ein offener Prozess, der sich erst im Verlauf entscheidet. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass viele gar keine klare Vorstellung davon hatten, wie lange sie bleiben wollten. Ich arbeite stark mit lokalen Dokumenten, in denen man vieles findet, was sich allein aus denen der Bundespolitik nicht erschließt. Da finde ich zum Beispiel Formulare, in denen gefragt wird, wie lange die Leute bleiben wollten. Die Antwort ist sehr häufig: “unbestimmt”. Hinzu kommen Umfragen aus den 1970er Jahren, in denen viele Migrant:innen sagten, sie wollten sich gern einbürgern lassen. Nur: Das war eben sehr schwierig. Sie bekamen nur eine Aufenthaltsbewilligung für ein oder zwei Jahre. Und die Einbürgerungsrechte, die sich im Bundesgesetzblatt vielleicht recht liberal lesen, wurden durch Länderausführungsbestimmungen oder durch den Ermessensspielraum einer Sachbearbeiterin stark eingeschränkt. Systematisch, wie man annehmen muss, je mehr man davon liest.

Sie sind Historikerin. Hat die Geschichtswissenschaft an diesen Mythen mitgestrickt oder ihnen jedenfalls nichts entgegengesetzt?
Wir haben bis heute kaum Lehrstühle für Migrationsgeschichte, geschweige denn einen, der sich ausdrücklich mit Rassismus beschäftigte. Aber die westdeutsche Zeitgeschichte hat auch selbst sehr stark ein Erfolgsnarrativ gepflegt: Die Bundesrepublik als demokratische Erfolgsstory, dann der Sieg im Kalten Krieg, die Wiedervereinigung und eine Holocaust-Erinnerung, die zur Staatsräson geworden ist. Darin spielte Migration keine besondere Rolle, in den großen Werken sind das ein paar Seiten.

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Gehört Migration nicht zu den deutschen Erfolgsgeschichten?
Ich glaube schon, dass sie dazugehört. Aber eher durch den Eigensinn der Betroffenen und nicht, wenn Sie sich die Sache durch die ordnungspolitische Brille anschauen: Da kamen welche, die hatten zu gehen, ihr Bleiben wird zu einer Anomalie. Außerdem bedeutet Migrationsgeschichte schreiben, sich mit Diskriminierung, mit Rassismus auseinanderzusetzen. Das ist aber für eine demokratische Gesellschaft sehr schwierig, weil es ihr Selbstbild in Gefahr bringt. In unserem Grundgesetz ist nach wie vor nicht das Volk der Souverän, sondern das deutsche Volk. Wer wird als zugehörig gesehen? Wenn die Geschichtswissenschaft da einen anderen Blickwinkel einnimmt, bekommen wir auch eine neue Geschichte.

Bekommen wir die denn?
Ich denke ja. Es gab immer wieder Konjunkturen des öffentlichen Redens über Migration und Rassismus. Die waren aber oft nicht nachhaltig, Vieles gerät in Vergessenheit und wird nicht als Teil der eigenen Geschichte begriffen. Jetzt sind vermehrt Menschen, die selbst betroffen sind, in der Rolle zu sprechen – und gehört zu werden. Sie forschen, machen Politik. Das führt auch geschichtstheoretisch zu spannenden Fragen. Zum Beispiel, ob wir überhaupt ein einheitliches Narrativ brauche. Und für viele, die selbst keine Einwanderungsgeschichte haben, wird all das immer selbstverständlicher. Ich glaube, das Thema wird uns jetzt auf Dauer begleiten. Anders gingen Wissenschaft und Politik auch an der Realität vorbei, in der wir leben.

Maria Alexopoulou ist Historikerin. Sie habilitiert zur Zeit an der Technischen Universität Berlin. Im vergangenen Jahr erschien bei Reclam ihr Buch "Deutschland und die Migration. Geschichte eines Einwanderungslands wider Willen".

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