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Wissen, wer kommt. Grenzkontrollen in Bayern

© picture alliance/dpa

Von Dänemark lernen: Wir brauchen den starken Staat zurück

Die politische Linke hat den Staat über Jahrzehnte kulturell marginalisiert, und die Konservativen schwächten ihn finanziell. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sigmar Gabriel

Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD und mehrfach Bundesminister. Er ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

Wer auf den Erfolg der dänischen Sozialdemokraten verweist, wird in der Regel unmittelbar mit Platzverweis bedroht. Vor allem „linke“ deutsche Sozialdemokraten subsumieren den Wahlerfolg in Dänemark gern unter dem Brandmal „rechtspopulistische Flüchtlingspolitik“, die mit der deutschen Haltung nicht zu vereinbaren sei. Wer so redet, hat wenig von dem verstanden, was hinter dem Erfolg der skandinavischen Schwesterpartei liegt. Der Ruf nach der „richtigen Haltung“ aber ist hierzulande immer noch wichtiger als der mühevollere Blick auf die sozialen Verhältnisse.

Dabei hat der Erfolg in Dänemark mehr mit der Kritik an den sozialen Verhältnissen eines globalisierten Kapitalismus zu tun als nur mit einer härteren Gangart gegenüber illegal Eingewanderten. Dort haben sie verstanden, dass wir in allen entwickelten Industrienationen längst mittendrin sind in einem Paradigmenwechsel. Nach der „Öffnung der Grenzen“ treibt die Gesellschaften jetzt die Frage um, wo eigentlich die Grenzen der Öffnung liegen?

"Markt statt Staat" fordert die Globalisierung

Zugunsten des globalisierten Kapitalismus sollten ja möglichst alle Grenzen und Regeln verschwinden: für Kapital, Waren, Dienstleistungen, Finanzen, Daten und auch für Menschen. Das war gut für die Ökonomie, hat aber auch Gewissheiten beseitigt. Die allermeisten Menschen wissen, dass sich die Welt auch weiter rasant ändern wird. Im Beruf, im Alltag, in unserer kulturellen Umgebung. Aber genau deshalb suchen sie auch nach verbleibenden Sicherheiten. Wer den Stürmen der Zeit standhalten will, wünscht sich neben allen Veränderungen auch Grenzen der Veränderung und Unsicherheit.

Die Fanfare der Globalisierung war „Markt statt Staat“. Möglichst wenig nationale Regulierung, keine Zölle oder Grenzkontrollen, Entstaatlichung und Vermarktung waren die Instrumente, die dem wirtschaftlichen Erfolg dienen und dadurch Wohlstand und Frieden erzeugen sollten.

Jetzt schlägt das Pendel zurück, und es geht eher um die Wiederherstellung staatlicher Handlungsfähigkeit. Eine heterogener werdende Gesellschaft braucht einen gemeinsamen Referenzpunkt. Und das kann nur der demokratische Staat sein. Je vielfältiger und freier unsere Gesellschaft wird, desto wichtiger wird der Staat.

Nicht nur zur Durchsetzung der in einer demokratischen Verfassung vereinbarten Normen einer Gesellschaft, sondern auch zur Sicherung annähernd gleicher Lebensverhältnisse, in denen das Leben jedes einzelnen gelingen kann und es nicht abhängig ist von Herkunft, Einkommen der Eltern, Geschlecht, Religion, Nationalität oder Hautfarbe.

Marode Schulen, Wohnungsnot, Gier ganz oben

Genau dazu aber war der Staat in den Augen vieler in den vergangenen Jahren nicht angemessen in der Lage. Heruntergekommene Schulen und Universitäten, eine marode Infrastruktur, Wohnungsnot, ungezügelte Gier ganz oben in der Gesellschaft und mangelnde Aufstiegschancen ganz unten sind nur einige seit Jahrzehnten zu beobachtende Beispiele dafür.

Wir haben den Staat in den letzten Jahrzehnten reduziert: Die politische Linke hat ihn kulturell marginalisiert, weil sie in einem zu starken Staat immer eine Gefahr für die individuellen Bürgerrechte gesehen hat. Mehr Polizei, Staatsanwälte, Richter und größere Eingriffsbefugnisse waren ihr zumeist ein Graus.

In Wahrheit jedoch ist der demokratische Rechtsstaat immer liberaler geworden – allen Kontroversen über Notstandsgesetze, Anti-Terrorgesetzgebung oder anderen staatlichen Eingriffsmöglichkeiten zum Trotz. Das politische Spektrum links der Mitte fremdelt mit dem Staat.

Konservative haben den Staat zwar nicht kulturell, dafür aber finanziell abgewertet, in dem sie die Sparschrauben immer fester angezogen haben. Die aktuelle Situation der Bundeswehr etwa ist direkte Folge einer unsinnigen Reform, bei der ein früherer Verteidigungsminister – Karl-Theodor zu Guttenberg – seinem Finanzminister die Einsparung von fünf Milliarden Euro versprochen hatte. Und der miserable Zustand der Schieneninfrastruktur und der Deutschen Bahn dürfte unmittelbare Folge der Sparprogramme sein, als das Unternehmen für den geplanten Börsengang „schlank“ gemacht werden sollte.

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Dass der Staat stark sein soll, ist ein nachvollziehbarer Anspruch

Dänemarks Sozialdemokraten haben vor allem gewonnen, weil sie die Handlungsfähigkeit ihres Staates wieder stärken wollen. Es sind gerade nicht nur die Migrations- und Flüchtlingsdebatte gemeint – aber durchaus auch sie. Wo die politischen Eliten das optimistische Motto „Wir schaffen das“ ausgaben, hatte die Mehrheit der Gesellschaft zunehmend den Eindruck, dass „zu viele zu schnell“ gekommen waren.

Nicht rassistische oder fremdenfeindliche Ablehnung steht dabei im Mittelpunkt, obwohl es das leider auch gibt. Mehrheitlich ging und geht es wohl eher um das Gefühl der Überforderung. Nachhaltige Integration braucht zusätzliche Stellen in den Kitas, mehr Lehrkräfte, Wohnungen, Sprachkurse und gelegentlich auch mehr Polizei. Die dafür vorhandenen finanziellen Ressourcen sind aber auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland begrenzt.

Ein starker Staat zeigt sich auch an Anzahl und Ausstattung seiner Polizisten.
Ein starker Staat zeigt sich auch an Anzahl und Ausstattung seiner Polizisten.

© dpa

Ob bei den Finanzmärkten, den sozialen Sicherungssystemen, innerer Sicherheit oder Migration: Alles braucht einen starken, leistungsfähigen und durchsetzungsbereiten Staat. Dahinter steckt durchaus auch ein ganz nachvollziehbarer und normaler Anspruch eines jeden Bürgers an seinen Staat. Noch und vermutlich auf lange Zeit sind es die geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungen der demokratischen Nationalstaaten, die Freiheit, Demokratie und Sicherheit garantieren. Sie sind nach wie vor der Referenzpunkt unserer Gesellschaften.

Das widerspricht nicht der Idee eines gemeinsamen Europas, sondern ist eher dessen Voraussetzung. Wo aber aus Sicht einer wachsenden Zahl von Menschen ihre Ansprüche an die Handlungsfähigkeit ihres Staates nicht hinreichend erfüllt werden, kochen diejenigen ihr Süppchen, denen die ganze Idee eines liberalen und weltoffenen demokratischen Rechtsstaates ein Graus ist.

Dänemark hat das verstanden

Hinter der Debatte über die Grenzen der Öffnung steckt mehr als die Frage, wie viel Zuwanderung eine Gesellschaft akzeptabel findet. Im Kern geht es um die Rückgewinnung von Staatlichkeit oder besser gesagt Souveränität. In nicht wenigen Fällen wird diese Rückgewinnung von Staatlichkeit und Souveränität nur auf dem Umweg über supranationale Institutionen gelingen. Die Aufhebung der nationalen Grenzen innerhalb der europäischen Mitglieder des Schengen-Abkommens war gerade nicht durch einen ebenso effektiven überstaatlichen Grenzschutz abgelöst worden.

Die Zustimmung zum Schlachtruf der Nationalisten „Take back border control“ ist das Ergebnis europäischen Versagens im Schengenraum. Nicht zuletzt Deutschland hat Jahrzehnte einer Europäisierung des Grenzschutzes blockiert, weil es keine eigene (finanzielle) Verantwortung dafür an den europäischen Außengrenzen übernehmen wollte.

Die Rückgewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit ist eigentlich ein linkes, ein progressives Projekt. Der Erfolg der dänischen Sozialdemokratie besteht darin, dass sie auf den unterschiedlichsten Feldern der Politik versuchen, eine Balance zwischen der Öffnung der Grenzen und der Grenzen der Öffnung zu finden. Die Volksparteien in Deutschland sollten diese Debatte aufgeklärt und ohne Schaum vor dem Mund aufnehmen.

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