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Wahlhelfer und Wahlhelferinnen zählen in einem Wahllokal Stimmzettel für die Bundestagswahl und das Abgeordnetenhaus.

© Sebastian Gollnow/dpa

Wahlen zum Abgeordnetenhaus: Die Frage nach den Neuwahlen

Was in den Tagen nach den verunglückten Wahlen in Berlin noch als unwahrscheinlich galt, rückt immer mehr in den Bereich des Möglichen. Ein Gastbeitrag.

Wo stehen wir? Die Mängel der Wahlen am vergangenen Sonntag sind mittlerweile hinlänglich bekannt. Die Warteschlangen waren vielerorts so lang, dass Wähler von der Wahl abgehalten wurden und mitunter wohl auch nach Hause geschickt wurden. Die Stimmzettel reichten in vielen Wahllokalen nicht aus. Wo es genügend Wahlzettel gab, waren es mitunter nicht die Richtigen. Und auch bei der Auszählung scheint es Probleme gegeben zu haben, wie die Verkündung von geschätzten Wahlergebnissen (anstelle der tatsächlichen) in Charlottenburg-Wilmersdorf nahelegt. So blamabel und bedrückend diese Zustände sind, so wurden sie bisher überwiegend als nicht entscheidend angesehen. Als mandatsrelevant, also als wirksam für die Zusammensetzung des Parlaments, wurden sie bisher nicht eingeordnet. Nur dann aber, wenn die Zusammensetzung des Parlaments betroffen wäre, könnte die Wahl angefochten werden.

Aber stimmt das? Können die Unregelmäßigkeiten wirklich nicht auf Sitzverteilung durchschlagen?

Diese Einschätzung dürfte insoweit stimmen, als die Betriebsunfälle trotz allem wohl nicht so umfangreich waren, dass die Mandatsverteilung zwischen den Parteien betroffen wäre. Dafür sind die Wahlkreise, die für die Verteilung der Sitze berücksichtigt werden, zu groß: das Bundesgebiet für die Zweitstimmen der Bundestagswahl, das Land Berlin für die Zweitstimmen der Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Auch die Direktwahlkreise bei den Bundestagswahlen sowie die Bezirke bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen bedürfen so großer Verzerrungen, dass schon sehr viel – und an vielen Stellen – passieren muss, um Auswirkungen auf die Mandatsverteilung zu haben. Das haben nicht einmal die Berliner Bezirksämter geschafft.

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Unstimmigkeiten bei den Berliner Erststimmen

Doch dann sind da ja auch noch die Berliner Erststimmen, die Stimmen für die direkt gewählten Abgeordneten für das Land Berlin. Und hier könnte es sehr wohl Unstimmigkeiten gegeben haben, die sich auch auf die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus, also im Berliner Landesparlament, auswirken.

Ausgelegt ist das Abgeordnetenhaus auf 130 Mandate, von denen 78 als Direktmandate vergeben werden. Das deutsche Wahlrecht will es, dass jeder direkt gewählte Kandidat in das Parlament einzieht. Gewinnt eine Partei mehr Mandate als es ihrem Stimmenanteil entspricht, erhält sie diese als „Überhangmandate“ zusätzlich. Diese werden bei den anderen Parteien wiederum mit Ausgleichsmandaten aufgewogen, damit das Verhältnis der Parteien untereinander wieder (näherungsweise) dem Ergebnis bei den Zweitstimmen entspricht.

Die Wahlen am 26.09. haben beides im Berliner Abgeordnetenhaus hervorgebracht: sieben Überhangmandate, davon vier für die SPD und drei für die CDU, sowie 10 Ausgleichsmandate. Vergeben werden die Überhangmandate in den Bezirken. Die SPD erarbeitete sie sich in Spandau, Neukölln und in Treptow-Köpenick (2). Für die CDU reichte es in Steglitz-Zehlendorf, Marzahn-Hellersdorf sowie in Reinickendorf .

Ergeben sich aus den Störungen im Betriebslauf mandatsrelevante Auswirkungen, wenn die Berliner Direktwahlkreise und die Regelungen bei den Überhangmandaten berücksichtigt werden? Es hängt davon ab, wie man die Mandatsrelevanz versteht: Ist sie erst dann gegeben, wenn sich das Gewichtsverhältnis der Parteien und Fraktionen verändert? Oder lässt sich bereits dann von Mandatsrelevanz sprechen, wenn einzelne Mandate betroffen sind? Wenn man letzteres zur Grundlage macht, dann lässt sich keineswegs mehr davon sprechen, es gebe keine Auswirkungen auf das Wahlergebnis.

Verzerrungen sind in allen Wahlkreisen nicht ausgeschlossen

Betrachten wir zunächst die Wahlergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen. Wie es bei Wahlen so ist, sind manche Ergebnisse recht knapp ausgefallen. In einem der sieben Wahlkreise in Charlottenburg-Wilmersdorf hat Franziska Becker von der SPD einen Vorsprung von lediglich acht Stimmen erlangt. Auch ein Direktmandat für die AfD in Marzahn Hellersdorf wurde nur mit einem Abstand von 70 Stimmen eingefahren. Bei um die 30.000 Wahlberechtigten pro Wahlkreis braucht es nicht viel, um solche Abstände umzudrehen. Könnten es vielleicht überwiegend ältere oder schwächere Menschen gewesen sein, die keine lange Wartezeit in Kauf nehmen wollten? Bedingen andere Faktoren, dass sich die Störungen nicht zufällig verteilt haben, sondern auf bestimmte Gruppen oder Orte konzentriert waren? Verzerrungen sind in allen Wahlkreisen nicht auszuschließen, in denen die Ergebnisse sehr knapp waren, und es gibt einige davon. Die Wahlzettel für und gegen Franziska Becker können noch so häufig nachgezählt werden – die Restgröße der Abgeschreckten lässt sich nicht mehr im Nachhinein ermitteln, und sie dürfte bei mehr als acht Personen liegen.

[Alle aktuellen Ergebnisse der Berliner Abgeordnetenwahl 2021 finden Sie auf unserer interaktiven Seite zur Wahl.]

Probleme gibt es auch hinsichtlich der Größe des Parlaments als Ganzem. Im Wahlkreis Neukölln 5 etwa gewann Nina Lerch von der SPD mit einem Vorsprung von 393 Stimmen. Erinnern wir uns: Neukölln ist einer der Bezirke, in denen die SPD ein Überhangmandat generieren konnte. Sind wir sicher, dass in diesem Wahlkreis weniger als 393 Personen möglicherweise nicht wählen konnten, weil nicht genügend Stimmzettel vorhanden waren? Oder weil es mehr als 393 Personen gab, die aus gesundheitlichen Gründen keine Wartezeit von über einer Stunde einräumen konnten? Wäre es hier in einem Wahlkreis mit etwa 33.000 Wahlberechtigten zu einem anderen Ergebnis gekommen, stünde der SPD in diesem Bezirk kein Überhangmandat zu – und entsprechend den übrigen Parteien keine oder weniger Ausgleichsmandate. Es gehört keine Hellseherei zu der Aussage, dass die Feststellung der offiziellen Endergebnisse nicht nur in diesem Bezirk eine Angelegenheit sein wird, bei der große Unsicherheiten hingenommen werden müssen. Die Landeswahlleiterin, die ja offenbar noch einige Tage im Amt bleiben wird, könnte die Unsicherheiten verringern, indem sie endlich jene Wahllokale und Wahlkreise benennen würde, in denen Probleme aufgetreten sind. Erst dann könnte der Landeswahlausschuss übrigens auch reinen Gewissens ein Endergebnis für Gesamtberlin feststellen, das keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit und der Anzahl der Überhangmandate zuließe.

Wird es also Neuwahlen geben? Es hängt zum einen davon ab, ob sich der Verdacht zerstreuen lässt, dass die offensichtlichen Organisationsprobleme genau dort geballt aufgetreten sind, wo Wahlergebnisse knapp waren. Vielleicht gab es ja gerade in engen Wahlkreisen weniger oder keine Probleme – möglich ist es. Zum anderen kann mit Spannung auf die Debatte gewartet werden, ob die Öffentlichkeit und die Wähler ein Abgeordnetenhaus für legitim halten, das zwar in seiner relativen Zusammensetzung mit dem Wahlergebnis übereinstimmt, in dem aber einzelne Abgeordnete sitzen, die nur unter offensichtlich irregulären Bedingungen in ihr Amt gewählt wurden.

Timm Beichelt

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