zum Hauptinhalt
Zwei Zivildienstleistende kümmern sich um eine Dialysepatientin im Rollstuhl, aufgenommen am 24.08.2010 in Leipzig - ein Jahr später wurde der Zivildienst abgeschafft.

© Jan Woitas/DPA

Keine Last, sondern Chance und Sicherheit: Warum die Dienstpflicht für alle eine gute Idee wäre

Frank-Walter Steinmeier wird für den Vorschlag einer Dienstpflicht hart kritisiert. FDP und Grüne klingen dabei gleich individualistisch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Julius Betschka

Nein, das Wort „Dienstpflicht“ benutzt der Bundespräsident nicht. Bei Frank-Walter Steinmeier heißt das Ganze nun „soziale Pflichtzeit“. Das klingt deutlich sozialdemokratischer und gefälliger, gleicht sonst aber dem schon 2018 guten Vorschlag der damaligen CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Man könnte so ein Programm auch verpflichtendes Gesellschaftsjahr nennen, oder schlicht: Sozialjahr. Was bleibt, ist die gleiche Pflicht für alle – und das scheint für einige die maximale Provokation.

Der Hauptunterschied zu früheren Debatten ist, dass viele Menschen Steinmeiers Idee nun gut finden. 66 Prozent der Befragten unterstützen laut einer repräsentativen Umfrage des Hamburger Opaschowski-Instituts für Zukunftsforschung einen solchen Dienst.

Dies als erzieherische Maßnahme der „Boomer“ für eine allzu protestfreundliche Jugend – Stichworte: anketten, festkleben, besetzen – zu deuten, wird der Sachlage nicht gerecht. Auch unter Jugendlichen wird die Idee positiv aufgenommen: Unter den Befragten im Alter von 14 bis 24 Jahren stieg der Anteil der Befürworter von 22 auf 59 Prozent und verdreifachte sich damit fast im Vergleich zu 2019. Als Gründe für die wachsende Zustimmung sieht das Institut Ukraine-Krieg und Pandemie.

Der Bundespräsident regt also, zeitlich gekonnt platziert, eine alte Debatte neu an. Steinmeier ist behutsam in den Formulierungen. „Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen“, sagt er. Ob das gleich nach der Schule sein muss, ließ Steinmeier genauso offen wie die Länge des Dienstes.

Steinmeier wählt bedachte Worte, die Kritiker reagieren harsch

Auch die Einsatzorte könnten flexibel sein: Die Bundeswehr könnte dazugehören, genau wie die Betreuung Behinderter oder Obdachloser. Der Bundespräsident eröffnet einen Debattenraum, mit der Mehrheit im Rücken. Der Widerspruch aus Politik und Medien ist scharf.

Zynisch sei dieser Vorschlag, heißt es. Populismus wird Steinmeier vorgeworfen. Die Pro-Argumente für den Dienst, die auch Steinmeier anführt, sind vielfach genannt: mehr Gemeinsinn, Hilfsbereitschaft, Vorurteilsabbau und soziale Durchlässigkeit. Deshalb lohnt ein Blick auf die Kritik. Sie kommt vor allem aus liberaler und links-grüner Ecke, tönt aber fast wortgleich.

Kaum überraschend wertet Justizminister Marco Buschmann die Dienstpflicht als „schweren Freiheitseingriff“, es herrsche ohnehin Fachkräftemangel. Der FDP-Politiker schreibt: „Da gehören junge Menschen in Ausbildung, Studium oder Beruf, nicht in Beschäftigungstherapie.“

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]

Dabei ist einerseits bemerkenswert, dass Marktreife für den Liberalen anscheinend eine Frage der schnellen Verfügbarkeit, nicht der womöglich besseren Qualifizierung des Arbeitenden ist. Die Abqualifizierung des Dienstes als „Beschäftigungstherapie“ müsste man als bewusst gesetzte Übertreibung ignorieren, wäre die Sichtweise nicht so weit verbreitet.

Es wird nun wieder so getan, als sei die als Begründung für Zivildienst oder Pflichtjahr oft angeführte bessere Sozialkompetenz eine Art persönlicher Eindruck. Nach dem Motto: Wer einen guten Zivildienst hatte, findet die Idee eben gut. Wer schlechte Erfahrungen gemacht hat, findet sie schlecht.

Dabei ist die sozialwissenschaftliche Studienlage zu den Folgen verpflichtender Sozialdienste recht eindeutig: Laut einer gerade veröffentlichten Studie der Wirtschaftsuniversität Wien haben 70 Prozent der Teilnehmer durch den Zivildienst soziale Kompetenzen, mehr Resilienz und Toleranz entwickelt.

Zu Rechten gehören Pflichten

Viele junge Männer seien durch den Zivildienst zum ersten Mal mit sozialen Berufen in Kontakt. In einer mehrjährigen Studie des deutschen Bildungsministeriums aus dem Jahr 2011 lautet das Ergebnis ähnlich.

In einer Studie aus dem Jahr 1996 wurde besonders hervorgehoben, wie der Dienst damals junge Männer mit ihrer Geschlechteridentität konfrontierte. Traditionell männliche Stereotype wurden gelockert, die Arbeit in bis dato weiblich konnotierten Bereichen wie der Pflege, in Kindergärten oder Behinderteneinrichtungen überhaupt erst denkbar.

Klingt wie ein Thema für Grüne und Linke, die ja allerorten Quoten und Pflichten einführen (wollen), um mehr Gleichstellung zu erreichen, Sprachvorschriften im Sinn haben, um gerechter zu sprechen. Plötzlich wird aber von „Zwangsdienst“ geredet, von Einschränkungen der Freiheit.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Warum nun schon die Überlegung, mehr ist es zu diesem Zeitpunkt nicht, zu mehr Gemeinsinn „zu verpflichten“, so absurd sein soll, erschließt sich kaum. Ja, Pflichten können eine Herausforderung sein, wenn man (zumindest erst mal) etwas dafür geben muss, aber sie konstituieren Gemeinschaft genauso wie die Rechte des Einzelnen.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus, Grüne, führt nun neben dem Freiheitseingriff auch die besonderen Belastungen der Jugend in der Pandemie an. Sie habe besonders gelitten, um Ältere zu schützen. Paus hat einerseits recht. Ein breit akzeptierter Vorschlag für ein Sozialjahr müsste das berücksichtigen.

Das neue Sozialjahr muss flexibel gestaltet werden

In Israel etwa muss der Wehrdienst nicht direkt nach der Schule, sondern zwischen dem 18. und 29. Lebensjahr vollzogen werden. Eine ähnliche Regelung ließe sich womöglich für ein deutsches Sozialjahr finden. Allerdings kann schon die Qualifizierung als weitere Last in Zweifel gezogen werden: Viele Jugendliche würden einen solchen Dienst offensichtlich gern machen, er brächte nicht nur Erfahrungswerte, sondern auch ein sicher finanziertes Jahr zur Orientierung in orientierungslosen Zeiten.

Ja, schon jetzt gibt es mit dem Bundesfreiwilligendienst Möglichkeiten, sich nach der Schule zu engagieren. Das führt auch Paus an. Doch um einen Freiwilligendienst kümmern sich oft vor allem jene, die eh schon engagiert sind. Ein flexibel gestaltetes Pflichtjahr wäre für sie kein Nachteil. Viele andere dagegen könnten sich plötzlich erst so ein Jahr leisten, denn der Staat wäre in der Pflicht (hier sieht man die Wechselseitigkeit des Modells), dieses für alle gleich gut auszufinanzieren.

Auch das schnellste Ersteigen der Karriereleiter rettet nicht mehr vor Problemen

Bisher gibt es nur 150 Euro im Schnitt pro Monat. Viel zu wenig zum Überleben. Das bisherige Modell bringt große Wahlfreiheit nur für gut Situierte – auch das dürfte einen Teil der Ablehnung der Pflichtalternative erklären. Da scheint der Individualismus dieser Zeit durch und genau jene Einzelkämpfermentalität, die an anderen Stellen für die Segregation der Gesellschaft mitverantwortlich gemacht wird.

Natürlich, niemand will jetzt den Zivildienst zurück. Es darf nicht passieren, dass junge Menschen in ihrem Sozialjahr vor allem in der Pflege eingesetzt werden und ausschließlich als Billiglöhner herhalten. Das Sozialjahr muss echte Wahlfreiheit bieten, und es muss natürlich für alle Geschlechter gelten. Beim Alter wäre eine flexible Regelung bis 30 Jahre denkbar.

Sicherheits-, Gesundheits- und vor allem Klimakrise sind nicht rein individuell lösbar. Egal, wie schnell man die erste Sprosse der Karriereleiter betritt. Fast egal, wie steil man steigt. Gemeinsinn, das könnte helfen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false