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2013

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Politik: Was guckst du?

Die Marquise de Merteuil sagte einst, dass Eitelkeit und Glück unvereinbar seien. Längst vorbei. Heute tut sie so, als sei sie der direkte Weg dorthin.

Dass mit der Eitelkeit etwas nicht stimmt, erkennt man schon daran, dass selbst die Kosmetikbranche nicht mehr über sie sprechen will. „Hat Kosmetik mit Eitelkeit zu tun?“ Diese Frage war im Grunde rhetorisch gemeint. Mit einem entschiedenen „Nein!“ hat man nicht gerechnet. Die Dame, die es gut gelaunt ausspricht, ist 55 Jahre alt, blond, und sie hat sehr schöne blau-graue Augen. Sie kennt sich wunderbar aus mit Anti-Aging-Seren und Cremes auf Kaviar-Basis. „Ich könnte Ihnen auch ein paar Adressen von ausgesprochen fähigen Schönheitschirurgen nennen“, sagt sie lächelnd. Ob man wisse, was passiert, wenn Falten unbehandelt bleiben? „Dann“, erklärt die Dame und zeigt zu Anschauungszwecken die Innenfläche ihrer Hände, „graben sie sich so tief ein, dass selbst eine Botox-Injektion ihre weißlichen Schatten nicht zum Verschwinden bringt.“ Jeder vernünftige Mensch werde einsehen, dass man verhindern muss, was man verhindern kann. Eventuelle Langzeitfolgen der Botox-Injektionen hin, eventuelle Verluste an individueller Mimik her. Die Dame jedenfalls wäre gerne bereit, zehn Jahre früher zu sterben, wenn sie dadurch verhindern könnte, dass ihr aus „dem Spiegel eine alte, sabbernde Frau entgegenstarrt.“ Aber wie gesagt: „Mit Eitelkeit hat das gar nichts tun, weil, eitel wäre es ja nur, wenn es übertrieben wäre.“

Vielleicht sollte man lachen, sich einfach umdrehen und gehen. Vielleicht sollte man hoffen, dass es ein schlechter Witz gewesen ist, ein Einzelfall. Aber das ist unwahrscheinlich, weil man an diese Meinung zu einfach herankommt. Kein Fernsehkanal, der nicht eine Reportage sendet, in der Menschen ernsthaft darüber nachdenken, dass eine Stirnfalte ihr Lebensglück verhindert, kaum ein Magazin, das Schönheit nicht zum Wettbewerbsvorteil stilisiert. „Mehr Schönheit fürs Geld“ verspricht „Die Freundin“ in ihrer diesjährigen neunten Ausgabe und auf einem Werbeplakat in Nähe des Kosmetikfachgeschäfts, das man gerade verlässt, prangt die Überschrift „Du entscheidest“. Zu sehen sind zwei nackte männliche Oberkörper. Hochgradig adipös, behaart und käsig-blass der eine. Haarlos, leicht gebräunt und durchtrainiert der andere. Die Eitelkeit hat auch in dieser Art Abstimmung sicherlich überhaupt nichts zu suchen. Könnte es sein, dass die Eitelkeit gerade einen Identitätsverlust erleidet?

Sie erkennt sich selbst nicht wieder und verschließt die Augen vor der eigenen Geschichte. Sie sei gar nicht eitel, behauptet sie. Womöglich ist es wie bei einer Hyperinflation. Einem massiven Wertverfall an der Begriffs-Börse. Die Eitelkeit hat sich derart vervielfacht, dass ihr Kurswert gefallen ist. Vorbei ist es mit einer Eitelkeit, die ihre Risiken kannte, die noch wusste, dass sie eitel ist. Heute läuft sie als eine Art Pharmavertreter durch die Gegend. Als eine Fremde, die mit uns lebt und deren Namen wir nicht kennen.

Mag sein, sie erinnert uns zu sehr an unsere Schwäche. An die Gefahr der Lächerlichkeit, die mit der Eitelkeit einhergeht. An die eigene Vergänglichkeit. „Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind“, heißt es beim Prediger Salomo (1,15). Eine große Leere ist dieses Eitle gewesen. Eine Art biblischer Ur-Wüste, in welcher der Mensch sein Spiegelbild findet. Das Eitle ist das Vergebliche, und das Wissen um die Eitelkeit ist eine Form der Welt- und Selbsterkenntnis. Indem der Mensch den eigenen Dünkel wahrnimmt, wird ihm bewusst, dass er einer Illusion verhaftet ist. Sein Ehrgeiz wird zu nichts als zu Erschöpfung führen. Diese Einsicht ist begleitet von einer tiefen Melancholie. „Du siehst wohin du siehst nur eitelkeit auf erden.“ So dichtete Andreas Gryphius 1637. „Der hohe thaten ruhm muß wie ein traum vergehen.“

Ein Memento mori war diese Eitelkeit. Eine Erinnerung an das eigene Sterben und eine Ermutigung, sich nicht zu wichtig zu nehmen. Oscar Wilde, der eitle Dandy und Schöpfer des unsterblichen „Bildnis des Dorian Gray“, schrieb unter dem Schutz der Vanitas. Er schrieb über die Eitelkeit wie über einen schwierigen und unersetzlichen Begleiter, und niemals war die Eitelkeit groß genug, um dem Schmerz völlig die Show zu stehlen. „Auf dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien“, notierte Wilde in vollkommener Eleganz. „Die eine besteht darin, dass man nicht bekommt, was man sich wünscht, und die andere darin, dass man es bekommt. Letztere ist die schlimmere, Letztere ist die wahre Tragödie.“

Heute lehnt die Eitelkeit den Gedanken an die Vergeblichkeit ab und beruft sich auf Machbarkeiten. Auf den narzisstischen Gedanken, dass all die Energie und Arbeit nur in das eigene „Projekt“ zu investieren sei und dass nichts natürlicher ist als sich ständig auf sich selbst zu konzentrieren. Jemand, der nicht wegsehen kann von seinem Smartphone-Display und der wie ein Süchtiger durchdreht, wenn der Akku leer und kein Strom verfügbar ist. Ein Handelsreisender im ICE Richtung München könnte der Narziss unserer Tage sein. Er stiert auf seinen Bildschirm, gleichgültig was um ihn herum geschieht. Die Erbsensuppe, die Frage des Kellners, ob mit dem Essen alles in Ordnung sei – nichts davon kann den Reisenden dazu bewegen, für nur eine Sekunde von seinem Ersatzspiegel aufzusehen.

Die Soziologin Cornelia Koppetsch würde sein Verhalten als ängstlich und angepasst beschreiben, als typische Reaktionsweise einer vom Abstieg bedrohten Mittelschicht. In ihrem gerade erschienenen Buch „Die Wiederkehr der Konformität“ schreibt sie über den Mentalitätswechsel, den diese neue gesellschaftliche Situation zur Folge hat, über die Anpassungsstrategien, mit denen eine ehemals grandios erfolgreiche soziale Schicht auf ihren Bedeutungsverlust reagiert. Abgrenzung, Beharrung, eine fast unterwürfige Bereitschaft zur Selbstoptimierung sowie die nüchtern und kühl kalkulierende „Logik des Erbes“ – all diese Strategien bedeuten, so Koppetsch, einen Abschied von der Individualität. „Das eigene Selbst wird als Ressource betrachtet.“ Es wird verbraucht, in seiner Leistungsbereitschaft ausgenutzt. Für die Phänomene der Eitelkeit muss das Konsequenzen haben. Und wer weiß, vielleicht liegt hier ein Schlüssel für ihren inflationären Verfall: Die Eitelkeit ist inflationär, weil sich niemand mehr an ihr stört. Sie kümmert sich um Botox, während man anderenorts wichtigere Fragen verhandelt. „Bei den ernsthaften, den relevanten Spielen“, sagt Cornelia Koppetsch, „spielt die Eitelkeit jedenfalls nicht mehr mit.“

Ein Bluff ist die Eitelkeit heute, immer in Gefahr, entlarvt zu werden. So wie es in jenem Stipendiaten-Auswahlgespräch geschehen ist, das Cornelia Koppetsch kürzlich führte. Eine imposante Erscheinung saß ihr gegenüber, jemand mit nichts als Einsen im Zeugnis. Ein rhetorisches Ausnahmetalent, das sich „äußerst elegant auf dem akademischen Parkett zu bewegen wusste“. Und dann. Gefragt nach den Grundlagen des Promotionsprojekts, wurde es plötzlich ausgesprochen schwierig. Nicht eine Frage wurde beantwortet. Stattdessen hieß es, die Fragen seien falsch. „Irgendwann“, sagt Cornelia Koppetsch, „ist für die Eitelkeit in ernsthaften Zusammenhängen Schluss.“

Nicht nur Soziologinnen wissen das. Jeder Notarzt, jede Hebamme, jeder Mensch, der am Bett eines Kranken sitzt, weiß es auch. Die Eitelkeit fängt an zu stottern und schwindet, wenn die hohen Einsätze kommen, wenn es um Krankheit oder Tod geht. Oder Liebe. Wenn es nicht um die eigene Wirkung geht, sondern, wie es Hannah Arendt in jenem legendären Gespräch mit Günther Gaus formulierte „um das Verstehen“. Um die Wahrheit. Oder das Leben selbst. Es muss nur intensiv genug oder gefährlich werden, und die Eitelkeit tritt freiwillig zurück.

Ist es nicht so? Schaut man an den wichtigen Tagen nicht viel seltener in den Spiegel, und wenn, dann eher im Vorbeihuschen. Als sei Zeit zu kostbar, um vor sich selbst stehen zu bleiben und sich ein paar Adjektive zu verpassen. Letztere sind die eitelsten aller Wörter. Der französische Schriftsteller und Philosoph Roland Barthes hat sich deshalb eine ideale Beziehung als eine Welt ohne Adjektive erträumt. Als einen aufregenden Ort der Freiheit. Seltsam, man erkennt sofort, wenn die Eitelkeit fehlt.

Lebendiger, leuchtender ist alles: das Bild des kleinen Mädchens, das an einem Nachmittag eines sehr langen Winters an der Seite des Vater einer Gruppe Schlittschuhläufern zusieht. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, die Ärmchen gerade herunterhängend, den Mund leicht geöffnet. Alles an diesem kleinen Menschen staunt, ist hingerissen von der anmutigen Leichtigkeit, dem Tempo des Schauspiels auf dem Eis. Oder die Szene, in der ein Mann nach Feierabend gedankenverloren eine Currywurst mit Pommes isst. Eine Binsenweisheit, dass Menschen am schönsten sind, wenn sie nichts davon ahnen. Bevor die Psycho-Ratgeber kommen und einem diesen Eindruck aus der Currywurstbude entreißen, bevor sie ihn als Beispiel für „Entspanntheit“ und „Flow“ in ihr System der Selbstoptimierung verfrachten und davon reden, dass ein entspanntes ein starkes Ich sei, wäre es besser, man behielte diese Sekunde für sich. Es mag sentimental klingen, aber es gab Zeiten, da galt die Eitelkeit als Feindin des Glücks.

Im Jahr 1989 trat sie in dieser Rolle im Kino auf, und zwar in Gestalt von Glenn Close als Marquise de Merteuil. Die Dame, eine gebildete Intrigantin, versuchte den Vicomte de Valemont (John Malkovich), den wichtigsten ihrer ungezählten Liebhaber für ihre Zwecke zu benutzen. Sie verlor ihn an die reine Schönheit der Madame de Trouvel (Michelle Pfeiffer) und sprach aus, was für die Eitelkeit zu gelten schien: „Dass nämlich Eitelkeit und jede Form des Glücks völlig unvereinbar sind.“

Die Eitelkeit, eine Todfeindin des Glücks? Warum sollte die Eitelkeit dem persönlichen Glück im Wege stehen? Nein, Eitelkeit hat ausgedient als tragische Figur. Sie ist keine Protagonistin, die es wert wäre, dass kluge Damen des 18. Jahrhunderts und andere große Geister sich um sie bemühen.

Eine Hofdame des Hochmuts ist die Eitelkeit gewesen. Eine Tochter der nach Augustinus abgefeimtesten aller Todsünden. Die Eitelkeit, weniger kalt und berechnend als der Hochmut, ähnelt ihr ansonsten zum Verwechseln. Auch sie richtet Augenmerk auf das eigene Ego. Der flämische Meister Hieronymus Bosch malte den Hochmut, die Superbia als eitle Frau. Sie bewundert ihr Spiegelbild, und der Teufel, der eitelste aller Fatzken, hält ihr den Spiegel hin. Gruselig ist diese Eitelkeit, und manch barocker Totentanz zeigt sie als heiß begehrte Braut. Von außen unversehrt, tanzt sie mit Gevatter Tod.

Einer Warnung gleicht dieses Bild, einem Abgesang auf die Welt, die erst leiser werden kann, wenn die Eitelkeit eine Sache rein unter Menschen ist. Goethe hat das blendend verstanden. Sein Verhältnis zur Eitelkeit ist ungetrübt. Ihn habe, schreibt er, die Eitelkeit „niemals verletzt“, und er habe es geschätzt, wenn jemand „seine Persönlichkeit, seine Verdienste sehr lebhaft vorempfand“. Auch er habe sich „eitel zu sein erlaubt“.

In der Geschichte der Eitelkeit gehört dies zu den heitersten Stellen. Die Eitelkeit bemüht sich um Wohlklang, sie ist eine Gegnerin der Langeweile. Im 19. Jahrhundert wird das aufsteigende Bürgertum die Gesten der ehemals höfischen Eitelkeit übernehmen. Für „Madame Bovary“ wird die Eitelkeit das Lebensthema, und in angelsächsischen Gesellschaftsmagazinen wird man sich auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten prächtig amüsieren. Künstler und Intellektuelle werden sich ihr widmen. Der Dandy, ein hochempfindsamer Charakter, wird sie zur Kunst erheben und ihr aus der Feder Charles-Pierre Baudelaires die erlesensten Gedichte schreiben. Friedrich Nietzsche schenkt ihr dagegen die dunkelste und zärtlichste aller Definitionen. Die „Haut der Seele“ nennt er sie, worauf die Eitelkeit sich nichts einbilden sollte. Nietzsche schimpft sie ebenfalls eine gerissene Illusionistin. „Der Eitle“, schreibt er, „verschmäht kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von deren Meinung liegt ihm am Herzen.“ Dieser Satz könnte noch heute manches erklären.

Zum Beispiel warum eitle Menschen so schlecht hören. Warum Politiker, je näher der Wahltermin rückt, desto schneller denken, man sei ihrer Meinung. Dabei streiten auch sie ihre Eitelkeit ab. Nicht Eitelkeit treibe sie an, sondern die Demut vor dem Amt. Doch jede Wette, Kate Moss ist weniger eitel als ein ehemaliger Verteidigungsminister. Anzunehmen, dass es damit zusammenhängt, dass ein Leben als Kate Moss seltener auf Demütigung stößt als der Alltag in der Politik.

„Eine Narbe auf einer Verletzung“. So nennt der Psychoanalytiker Erwin Kaiser die Eitelkeit. Immer erzählt sie die Geschichte einer Kränkung. „Verletzt wird der eigene Narzissmus, den wir alle“, so Kaiser, „bis zu einem gewissen Grade nötig haben.“ Als Analytiker frage er sich deshalb sofort, „was steckt hinter der Eitelkeit?“ Warum stellt sich jemand in Siegerpose auf den Time Square? Wieso spritzt er sich Botox ins Gesicht und will es nicht eitel nennen?

Es scheint, die Eitelkeit hat keine Lust auf Erinnerung. In einer konformistischen Gesellschaft fehlt ihr dazu vermutlich die Kraft. Sie will es jedem recht machen. Will nicht anecken. Niemand soll denken, sie sei ein komischer Kauz. Ein dickes Pflaster hat sie sich auf die Narbe geklebt. Ein Streber ohne Stolz ist sie geworden. Jemand, der Bushido ein Praktikum im Bundestag besorgt. Nein, es geht der Eitelkeit nicht gut. Sie hat bald keine Falten mehr, und auch kein Gedächtnis. Ob man ihr sagen sollte, dass man sich langsam Sorgen um sie macht?

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