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Die Kirchen profitieren bis heute von jahrhundertealten Verträgen.

© Rainer Jensen /dpa

Ablösung der Staatsleistungen an Kirchen: Wie das Parlament seit 102 Jahren einen Verfassungsauftrag ignoriert

Für Enteignungen im 19. Jahrhundert zahlen die Länder jedes Jahr Millionen an die Kirchen. Dabei soll der Bund seit mehr als 100 Jahren eine Lösung finden.

Es sind nur zwei Sätze in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, doch ihr Auftrag besteht bis heute - und kostet die Steuerzahler jedes Jahr mehr als eine halbe Milliarde Euro. Im leicht verstaubten Juristen-Deutsch heißt es unter Artikel 138: "Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf."

Dies ist eine Geschichte, die ihren Ursprung teils zu Zeiten der Reformation hat und sich im Kern um Entschädigungszahlungen an die beiden großen Kirchen dreht. Und sie ragt bis in die Gegenwart hinein, denn dem Verfassungsauftrag, den die Verfasser der Weimarer Reichsverfassung im Sommer 1919 formulierten, wurde bis heute nicht nachgekommen.

Am heutigen Donnerstag, fast 102 Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, hätte der Deutsche Bundestag die Möglichkeit, endlich zu handeln. Ein gemeinsamer Antrag von FDP, Linke und Grüne will eine Ablösung erreichen. Denn es geht um viel Geld. Allein im vergangenen Jahr 2021 erhielten die katholische und die evangelische Kirchen 595 Millionen Euro sogenannter Staatsleistungen.

Die Antragssteller äußern sich vorab optimistisch: "Es besteht erstmals die historische Chance die Ablösung der Staatsleistungen in die Wege zu leiten", sagt FDP-Politiker Benjamin Strasser dem Tagesspiegel. Für die Liberalen hat er den Antrag mitgeschrieben. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, sagt: "Unser Gesetzentwurf gewährleistet die angesichts der Dauer des unerfüllten Auftrags dringend gebotene Rechtssicherheit und stellt zugleich eine mehrheitsfähige Regelung dar, um den Ablöseprozess endlich voranzubringen."

Optimistisch: Antragsteller Konstantin von Notz (Grünen) hält den Antrag für "historisch".

© Christophe Gateau/dpa

Um die Problematik zu verstehen, muss man weiter zurück als in die Weimarer Republik. Zurück bis zum Dreißigjährigen Krieg, der mit dem Westfälischen Frieden und großen Enteignungen der evangelischen Kirche endet. Ein Schicksal, das später, nach den napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch die katholische Kirche ereilt. Doch die Kirchen verlieren ihre Ländereien und Besitztümer nicht ohne Gegenleistung. Unzählige lokale Verträge, Konkordate und andere Vereinbarungen sichern den Kirchen staatliche Entschädigungszahlungen zu.

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Fortan zahlen die Könige, Kurfürsten, Fürsten und Herzöge Entschädigungen an die Kirchen. Erst als die Monarchie in Deutschland mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endet, geraten die Zahlungen in den Fokus der Politik. Doch auf die beiden Sätze der Weimarer Reichsverfassung folgte erst einmal - nichts.

Kleiner Mann, große Wirkung: Napoleon ordnete Europa neu - die Spuren finden sich bis heute.

© dpa

"In der Weimarer Republik hatte man ganz andere Sorgen", sagt der Rechtswissenschaftler Hans Michael Heinig, der sich seit vielen Jahren mit den Staatsleistungen beschäftigt. 1919 ist der Weltkrieg frisch verloren, hohe Reparationszahlungen lasten auf der jungen Demokratie, am Horizont warten bereits Weltwirtschaftskrise und Umsturzversuche der Nationalsozialisten. So wird zur Ablösung der Staatsleistungen lediglich ein Referentenentwurf erarbeitet, bis ins Parlament schafft der es allerdings nie.

Der Auftrag steht heute im Grundgesetz

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Verfassungsauftrag aus der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz unter Artikel 140 aufgenommen. Doch wieder passiert nichts. In den ersten Jahre der Bundesrepublik unter CDU-Kanzler Konrad Adenauer sei das Thema wenig populär gewesen, erklärt Rechtswissenschaftler Heining, der Kirchenrecht an der Universität Göttingen lehrt: "Die Ablösung hatte immer den Ruf des kirchenfeindlichen." Dabei geht es bei der Ablösung nicht um die Aussetzung der Kirchensteuer, sondern um eine finanzielle Trennung von Kirche und Staat.

Doch weder CDU, noch SPD trauten sich an die Thematik und so zahlen die Bundesländer bis heute an die Kirchen. Denn nicht der Bund, sondern die einzelnen Ländern gelten in der Rechtsnachfolge der Fürsten, Herzöge und Könige als Schuldner.

Das Münster in Konstanz. Baden-Württemberg zahlt den Kirchen jedes Jahr am meisten Entschädigung.

© Patrick Seeger dpa

Dass über die Jahrzehnte nicht gehandelt wurde, hat zwei Gründe, erklärt Hans Michael Heinig: Erstens haben die Verfasser der Weimarer Reichsverfassung dem Gesetzgeber keine Frist gesetzt. Der zweite Grund liegt im Wort "Ablösung". "Ablösung heißt Einstellung der Zahlung gegen Entschädigung", sagt Heinig.

Genau um diese Entschädigung wird gerungen. Teils zahlen die Länder lieber jährlich ein paar Millionen als auf einen Schlag hunderte Millionen und dann nie wieder. Eine Entscheidung ohne Weitblick. "Hätte man vor 50 Jahren abgelöst, hätte man sich fiskalisch viel gespart."

Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf von Grünen, Linken und FDP schlägt eine Entschädigungszahlung, in Höhe des 18,6-fachen der Zahlungen von 2020 vor. Gezahlt werden könnte auch in Raten. "Damit stellen wir sicher, dass die Kirchen ihre derzeitigen, wichtigen Leistungen für die Gesellschaft fortsetzen können", sagt der Grünen-Antragsteller Konstantin von Notz.

Kirchen und SPD wollen weitere Gespräche

Selbst die evangelische Kirche, die den Großteil der jährlichen Zahlungen erhält, gibt sich offen. "Der Entwurf ist eine hilfreiche Grundlage für weitere notwendige Erörterungen", sagt eine EKD-Sprecherin auf Anfrage. Zu solchen Gesprächen sollten Vertreter der Bundesländer, der Landeskirchen und Diözesen hinzugezogen werden, weil sie später die Vorgaben eines Grundsätzegesetzes umsetzen müssen, so die Sprecherin.

Ähnlich äußert sich der religionspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci. "Die Sicht der Länder ist in dem Gesetzesentwurf von FDP, Linken und Grünen nicht berücksichtigt. Wir schlagen daher zunächst eine Kommission vor, die alle an einen Tisch holt, und unter Beteiligung der Bundesländer eine Lösung erarbeitet", sagt er dem Tagesspiegel.

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FDP-Mann Benjamin Strasser ärgert das Hinhalten der großen Koalition, die bislang keinen eigenen Antrag erarbeitet hat. "Wenn nun Union und SPD mit dem fadenscheinigen Verweis auf eine angebliches Beteiligungsrecht der Länder unseren Vorschlag ablehnen und keinen eigenen Vorschlag vorlegen, zeigen sie nur, dass sie das Thema offensichtlich weiter aussitzen wollen." Die Länder und Kirchen seien in den vergangenen Jahren mehrfach miteinbezogen worden.

Rechtswissenschaftler Hans Michael Heinig glaubt nicht an eine Annahme des Antrags der Opposition, der am heutigen Donnerstag in die zweite und dritte Lesung geht. Trotzdem hätten die Initiatoren einen Erfolg gehabt, weil sie das Thema nach 102 Jahren wieder auf die Agenda gesetzt hätten. Die nächste Regierung werde sich damit beschäftigen müssen, sagt Heinig. "Wir werden das Thema nicht noch einmal 20 oder 100 Jahre liegen lassen."

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