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Rückblick 2010: Wikileaks: Aufstieg ins Fadenkreuz

Vor einem Jahr galt das Projekt Wikileaks unter Journalisten noch als Insider-Tipp. Das änderte sich am 5. April, da veröffentlichte die Seite ein Irak-Video. Das war erst der Anfang.

Gerade ein Jahr ist es her, da galt das Projekt Wikileaks unter Journalisten noch als Insider-Tipp. Da hatten die Aktivisten über ihren verschlüsselten und daher vor Enttarnung sicheren elektronischen Briefkasten zwar schon Zigtausend geheimer Dokumente empfangen und damit zahlreiche Skandale enthüllt. Sie hatten die Verstrickung der Schweizer Bank Julius Baer in den Steuerbetrug ihrer Kunden ebenso bewiesen wie die Schuld der britischen Ölhandelsfirma Trafigura an der Vergiftung von Tausenden Bewohnern der Elfenbeinküste oder die Beteiligung isländischer Geschäftsleute an der Plünderung der Pleite-Bank Kaupthing. Doch die Initiative selbst und ihr Gründer, der australische Aktivist Julian Assange, waren der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt.

Das änderte sich am 5. April. An diesem Tag trat Assange erstmals in Washington selbst vor die Presse und veröffentlichte das von einem US-Armee-Hubschrauber aufgenommene Video über den Angriff auf eine Gruppe von Zivilisten in Bagdad im Juni 2007, bei dem auch zwei Journalisten der Agentur Reuters im blindwütigen Feuer der Bordschützen starben. Das Video dokumentierte die Verrohung der Soldaten und machte weltweit Schlagzeilen.

Der nächste Schlag folgte im Juli mit der Veröffentlichung von rund 90 000 Feldberichten der US-Armee aus dem Afghanistan-Krieg, die zeigten, dass die Nato-Truppen mit der angestrebten Befriedung des Landes überfordert sind. Nicht minder erschreckend waren die mehr als 400 000 Berichte aus dem Irak-Krieg, die Wikileaks im Oktober lancierte. Sie bewiesen, dass Amerikas Generäle Kriegsverbrechen und Folter von Gefangenen zumindest duldeten. Spätestens seitdem die Wikileaker im Herbst auch rund 251 000 interne Depeschen des US-Außenministeriums dem britischen „Guardian“, der spanischen Zeitung „El Pais“ und dem „Spiegel“ zur Auswertung übergaben und so Amerikas Diplomaten vor aller Welt bloßstellten, gelten Assange und seine Mitstreiter in den USA als Staatsfeinde. Einige Politiker forderten gar, Assange solle wegen Terrorismus verfolgt werden.

Dafür gibt es aber bisher keine rechtliche Grundlage. Der erste Zusatz der US-Verfassung schützt ausdrücklich das Recht auf Veröffentlichungen aller Art, auch die von geheimen Dokumenten. Bis Dezember hat denn auch kein US-Staatsanwalt auch nur versucht, eine Anklage gegen Assange oder Wikileaks zu erheben. Verantworten soll sich Assange lediglich für angebliche sexuelle Übergriffe, die ihm zwei Frauen aus Schweden vorwerfen. Die sollen freiwillig Sex mit ihm gehabt haben, beklagten aber anschließend, er habe absichtlich die benutzten Kondome beschädigt. Ob die Anklage vor Gericht Bestand hat, ist allerdings zweifelhaft.

Viel schwerer ist die Lage für Bradley Manning, jenen Soldaten, der als Informationstechniker im Irak stationiert war und das Video sowie die Dokumente an Wikileaks versandt haben soll. Manning wurde im Mai verhaftet, nachdem er sich gegenüber einem unter Netzaktivisten umstrittenen früheren Hacker offenbart haben soll, der daraufhin die Sicherheitsbehörden informierte. Manning wird des Hochverrats angeklagt, Politiker wie der frühere republikanische Präsidentschaftskandidat Mike Huckabee fordern die Todesstrafe für ihn.

Andererseits hat Manning Beweise für Kriegsverbrechen öffentlich gemacht und kann sich deshalb auf das in den USA geltende Schutzrecht für „Whistleblower“ berufen. Dieses schützt Informanten vor Verfolgung, wenn sie Verbrechen ihrer Arbeitgeber aufdecken. Gerade erst hat der Senat beschlossen, dass dies künftig auch für Staatsbedienstete gelten soll. Ob auch Soldaten dieses Recht in Anspruch nehmen können, darüber wird ein Militärgericht im nächsten Frühjahr entscheiden.Harald Schumann

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