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Wolfgang Thierse war Vorstandsmitglied der SPD, Präsident des Bundestages und Vizepräsident. Er wird an diesem Montag 75 Jahre alt.

© Jürgen Blume/imago

Wolfgang Thierse zum Zustand der SPD: „Ich erwarte jetzt die Impulse der Parteiführung“

Wolfgang Thierse fordert von seiner SPD ein klareres Profil. Im Mittelpunkt sollen Solidarität und Sicherheit stehen. Ein Interview.

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Herr Thierse, ein ehrlicher Satz zum Zustand Ihrer Partei, bitte!

Die SPD ist in einem traurigen Zustand. Die Wahlniederlage in Bayern tut entsetzlich weh. Vor allem, weil sie den Zustand der gesamten Partei beschreibt.

Wo verorten Sie die Ursachen?

Die Analyse ist nicht leicht. Zunächst einmal stelle ich fest: Die Wähler sind uns in verschiedene Richtungen weggelaufen, zur CSU, zu den Grünen, zu den Freien Wählern, ein wenig zur AfD. Nur nicht nach links. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen.

Welche?

Eine Ursache für den Zustand der SPD – und zwar der gesamten SPD – liegt in ihrem mangelnden Profil. Deshalb muss die Partei all die inneren Streitfragen klären, die die Partei spalten und dazu führen, dass uns die Menschen weniger vertrauen. Die erste Frage ist die Agenda 2010. Die SPD muss endlich ihren Frieden mit der Agenda machen. Und zwar nicht durch komplette Rechtfertigung, sondern durch ehrliche Analyse, Aufarbeitung und Erarbeitung eines Konzeptes für die Zukunft des Sozialstaates. Die zweite Frage ist die Flüchtlingsfrage. Hier benötigen wir Mut und Realismus gleichzeitig. Wer die Menschen, die zu uns kommen, integrieren will, muss erkennen, dass Integration ohne Begrenzungen nicht gelingen kann, wenn den Menschen hier das eigene Land nicht fremd werden soll. Beides gehört zusammen: Integration und Begrenzungen. Wer schmerzliche Abschiebungen verhindern will, muss für klare Regelungen bei der Aufnahme sorgen. Und die dritte Frage lautet: Wie viel muss in Sachen Sozialstaat national bleiben und wie viel soll europäisch werden?

Wer soll diese Fragen für die SPD klären?

Das kann nicht par ordre du mufti, also nach dem Prinzip Schröder, geschehen, sondern in intensiver Debatte der Partei. Allerdings muss die Parteiführung in diesem Prozess jetzt vorangehen. Und zwar rasch und entschlossen. Die SPD sollte zwei Begriffe ins Zentrum ihres Profils rücken: Solidarität und Sicherheit. Vor allem für die Menschen, die nicht zum urbanen kosmopolitischen Publikum und den Gewinnern der Globalisierung gehören und die Zukunftsängste haben, obwohl es ihnen heute relativ gut geht. Aber auch für die, die zwar in der Globalisierung angekommen sind, aber in prekären sozialen Verhältnissen arbeiten. Beiden muss die SPD ein Angebot machen. Für eine konsequente und alterssichernde Rentenpolitik etwa, oder für soziale Sicherheit in der digitalen Ökonomie. Wir müssen die Konturen eines starken Staates in Fragen von Sicherheit und Sozialem aufzeigen, der auch in Zeiten der Globalisierung schützt und dem man so viel Vertrauen entgegenbringt, dass man bereit ist, für dessen Sicherung Solidarität zu üben.

Kann die Spitze der SPD mit Andrea Nahles diese Aufgabe lösen?

Ich halte nichts von Personaldiskussionen. Das bringt uns keinen Meter weiter. Andrea Nahles hat eine inhaltlich-programmatische Diskussion angekündigt und ich erwarte jetzt die Impulse der Parteiführung und Signale, um diesen Prozess voranzutreiben. Das wird ein schmerzlicher Prozess, aber wir dürfen ihn nicht scheuen.

Raten Sie Ihrer Partei, aus der großen Koalition auszusteigen und sich auf die Profilierung zu konzentrieren?

Es ist naiv zu glauben, dass sich eine Partei in der Opposition erholen kann. Die bayerische SPD beweist das Gegenteil. Es ist durchaus vernünftig, in einer Regierung pragmatische Entscheidungen mitzutragen und den Menschen gleichzeitig zu sagen, welche weitergehenden Angebote die Partei hat, wenn sie nicht zum Kompromiss der Koalition mit der Union gezwungen ist. Ich wünsche mir gerade von den Kritikern des Verbleibs in der Koalition, also auch von Kevin Kühnert, dass sie sich aktiver mit eigenen Konzepten in die programmatische Debatte der Partei einbringen.

Was muss die SPD in der Koalition in den nächsten zwölf Monaten erreicht haben, damit sie Ihrer Partei empfehlen können, auch in der zweiten Halbzeit mit der Union zu regieren?

Es muss sichtbare Fortschritte bei der Schaffung bezahlbarer Wohnungen geben, weitere Modernisierungsschritte der Pflege, im besten Fall erste Verabredungen zur Sicherung der Rente nach 2025 und eine Einwanderungsregelung, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden kann.

Im nächsten Jahr stehen in drei ostdeutschen Bundesländern Landtagswahlen an und es werden ein Siegeszug der rechtspopulistischen AfD und weitere Stimmverluste für die SPD erwartet. Was hat Ihre Partei in den vergangenen 28 Jahren in Ostdeutschland falsch gemacht?

Lassen Sie mich so anfangen: Wer die Ostdeutschen als Gedemütigte und zweitklassige Verlierer der Deutschen Einheit beschreibt und verlangt, wie mein Berliner Parteifreund Raed Saleh, dass man sich bei ihnen entschuldigt, der macht die Ostdeutschen tatsächlich zu Gedemütigten und Zweitklassigen – und erleichtert in gewisser Weise sogar das populistische Geschäft der AfD. Er verkennt nämlich, dass das Bild nicht mehr stimmt. Es gibt den Osten nicht mehr, es gibt erfolgreiche Regionen und Gegenden, die zurückbleiben. Es gibt Sieger und Verlierer. Auch in der Revolution `89 gab es einen Elitenwechsel und natürlich Verlierer. Sollen wir uns bei den Eliten der DDR entschuldigen? Ich erinnere daran: Die Menschen wollten 1990 mit großer Mehrheit so schnell wie möglich unter das westdeutsche Dach Helmut Kohls. Sie wollten die Demokratie, die aber verlangt selbstverantwortliches Engagement. Die autoritäre Erwartung an „die da oben“, an den Westen nach dem Muster „Integriert uns“ hilft nicht. Und Schuldzuweisungen helfen auch nicht.

Die Sozialdemokraten in Ostdeutschland wollen nun mit einer „Wahrheitskommission“ die Wendejahre kritisch aufarbeiten. Was halten Sie davon?

Vor allem muss es weitere spezielle Förderungen für den Osten geben, Industrieförderung, Rentenangleichung, Lohnangleichung, Verlagerung von Bundesinstitutionen, Karriereförderung für Ostdeutsche und vieles mehr. Und ich will mich auch gar nicht dagegen wehren, dass wir die Wendejahre aufarbeiten – in wissenschaftlicher Analyse und breiter Debatte: Was war gut, was ist nicht geglückt? Aber ich denke, dass im Zentrum eine intensive Demokratiearbeit stehen muss. Die Festigung der demokratischen Strukturen kam im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht über Nacht. Im Osten Deutschlands wird es noch Zeit brauchen, bis die Erkenntnis tief in der Gesellschaft verankert ist, dass Demokratie und eigene Verantwortung zusammengehören. Und natürlich müssen wir eine intensive Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten und Rechtspopulisten führen.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Paul Starzmann.

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