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Politik: Zwei Halbe, kein Ganzes

Bis 1990 teilte die Mauer das kleine Dorf Mödlareuth – die Einwohner finden bis heute nicht zueinander

Karin Mergner war dabei, als endlich auch in Mödlareuth die Mauer fiel. Es war der 17. Juni 1990. In der alten Bundesrepublik feierten sie zum letzten Mal ihren Tag der deutschen Einheit. Es war ein grauer Tag, erinnert sich die Bäuerin. Der Bagger kam und riss Meter für Meter des Betonwalls ein. Sie fingen an zu feiern. Und doch haben sie gezögert, die Mauer, die fast 40 Jahre lang ihr Dorf zerschnitt, dem Erdboden gleich zu machen. 100 Meter ließen sie stehen. Am Ortsrand, wo kaum noch jemand wohnt. Aus ihrem Leben ist sie damit nicht verschwunden. Denn auch nach 20 Jahren sind aus den zwei Teilen von Mödlareuth nicht ein Ort geworden.

Im deutschen Mittelgebirge zwischen Gera und Hof liegt das 50-Einwohner-Dorf. Kaum mehr als ein Dutzend Häuser schmiegen sich in ein Tal. Blumen schmücken die Gärten. Auf einer Wiese schnattern Gänse. Dort wo der Tannbach durchs Tal fließt, stand früher die Mauer.

Auf der Westseite des Baches, in Bayern, lebt Karin Mergner. Sie ist 63 Jahre alt, eine mittelgroße, kräftige Frau. In den 60er Jahren hat sie nach Mödlareuth geheiratet, zog zwei Kinder groß, arbeitete auf ihrem Hof und gab Interviews. Wie sie es aushalte, an einem solchen Ort zu leben, haben Reporter aus den USA sie gefragt.Keine 100 Meter vom Wohnzimmer entfernt begann die Teilung des Orts in DDR und BRD. Anfangs war die Grenze nur ein Bretterzaun, dann wurde sie Stacheldrahtzaun, schließlich streng bewachter Sicherheitswall, der die Familien zweier Brüder, Nachbarn, eine Dorfgemeinschaft auseinanderriss.

Im Osten lebten sie fortan in einer militärischen Sperrzone, die von den Einwohnern nur mit Passierschein verlassen werden durfte. Der Westteil des Örtchens wurde zum Ausflugsziel. Bis zu 40 000 Grenztouristen kamen im Jahr, um den „antifaschistischen Schutzwall“ zu fotografieren. „Little Berlin“ nannte George Bush Senior das Dorf, als er es 1983, noch als US-Vizepräsident, besuchte.

Ausflugsziel ist Mödlareuth nach dem Mauerfall geblieben. An manchen Wochenenden stehen die Touristenbusse auf der Straße Schlange. Allein im vergangenen Jahr zog es 75 000 Menschen hierher, Schüler aus der Region, Gruppen aus den Niederlanden, Besucher aus den USA. An jedem 3. Oktober bringt das Deutschlandfest der CSU Tausende in das Tal.

„Westen, Osten, das spielt bei uns keine Rolle“, sagt Karin Mergner. Und trotzdem: Neulich stand ein Journalist aus Südkorea mit seinem Kamerateam vor ihrer Tür. Der hatte in der Zeitung gelesen, dass Mödlareuth nicht zusammengewachsen sei, dass die Wessis die Ossis für faul hielten und die Ossis die Wessis für Besserwisser. Das wollte der Südkoreaner genau wissen. Karin Mergner aber kann das alles nicht mehr hören. Soll ihr mal einer zeigen, wo im Ort noch Osten und Westen ist.

Sehen kann man es nicht mehr. Über den Mauerstreifen ist Gras gewachsen. Auf beiden Seiten des Tannbachs sind die Straßen saniert, die Häuser gestrichen. Man trifft sich zum Verzieren der Ostereier, stellt zusammen einen Maibaum auf, feiert das Sommerwendefest, Geburtstage und Silvester. Eventorientierte Gemeinsamkeiten sind das, eher unverbindlich. Das einzig dauerhafte, das die Mödlareuther gemeinsam schufen, ist ihr Museum. „Fast alle haben bei der Vollversammlung dafür gestimmt“, sagt der Leiter Robert Lebegern. Im Büro des Historikers steht in Wandregalen aufgereiht, was er zusammengetragen hat: Interviews, Dokumente, Fotos. Alle im Dorf hätten mitgemacht, sagt er. Die Geschichte des Ortes sollte erhalten bleiben, für Kinder und Enkel. Bauern boten leer stehende Scheunen an, halfen beim Aufbau des Freigeländes mit, wo neben den 100 Metern echter Mauer Hundelaufanlagen, Rufsäulen und Scheinwerfer aufgestellt wurden.

Doch zu mehr reicht das Gefühl der Verbundenheit nicht. Man kehrt dann wieder auf seine Seite des Baches zurück, fühlt sich dort daheim. Was hält die Mödlareuther davon ab, ein Dorf zu werden? Der Tannbach teilt den Ort in zwei Bundesländer. Der Westen gehört zu Bayern, der Osten zu Thüringen.

Und das ist nicht erst seit der Wiedervereinigung so. Seit Jahrhunderten stritten sich Fürsten und Könige um die Region. Seit 1810 ist hier die Grenze zwischen dem Königreich Bayern und dem Fürstentum Reuß, das seit 1920 zu Thüringen gehört. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wirkte sich das im Alltag nicht aus. Es gab eine Schule, ein Wirtshaus, einen Gesangverein. Zur Kirche ging man ins bayerische Töpen. Die Männer wurden gemeinsam in den Krieg geschickt.

Bis zur Wende hatte man zwei Dörfer, zwei Bürgermeister, zwei Postleitzahlen, zwei Autokennzeichen, zwei Dorfteiche, zwei Schulen. Und dabei ist es trotz Einheit geblieben. Die Kinder aus dem Osten fahren ins thüringische Gefell oder Hirschberg zur Schule. Die aus dem Westen steigen in den in die Gegenrichtung fahrenden Bus ins bayerische Töpen oder nach Hof. Ferien haben die Kinder je nach Bachseite.

Die Mödlareuther hätten die Freiheit, diese Unstimmigkeiten zu ändern – und die Ländergrenze zu verschieben. Doch offensichtlich fühlen sich die Einwohner mehr ihrer getrennten Vergangenheit verbunden als einer gemeinsamen Zukunft.

Dabei hat das Trennende mit dem Verschwinden der Mauer nicht einfach aufgehört. Der Alltag der Mödlareuther West hat sich dadurch nur im Kleinen verändert. Im Leben der Mödlareuther Ost blieb kein Stein mehr auf dem anderen.

Kaum war die Grenze auf, kamen die Journalisten aus dem Westen. Sie wollten die Ostdeutschen sehen, die so lange hinter der Mauer gelebt hatten, wollten wissen, ob in ihrem Teil des Dorfes alle zur Stasi gehört hatten, weil so nah an der Grenze doch gewöhnlich nur Linientreue leben durften. Mit laufender Kamera standen sie unangemeldet vor der Tür. Dazu äußern will sich heute im Osten niemand mehr. Genauso wenig wie zur DDR. Die Türen auf der Ostseite des Tannbachs bleiben für die Presse verschlossen. Nur Zugezogene sind bereit zu reden.

Auf der thüringischen Seite gibt es die einzige Gaststätte im Ort, den Grenzgänger. In einem niedrigen Nichtraucherraum sitzen ein paar Touristen an den Tischen vor Rosenbier und Rostbrät. Hinter dem Tresen steht Wirtin Eleonore Müller. Sie ist seit acht Jahren im Dorf. Mit den Frauen aus Bayern komme sie gut aus, sagt sie. Und doch ist es ihr recht, dass der Grenzgänger östlich des Tannbachs liegt. Sie komme aus Thüringen, sagt sie, gehöre wohl doch eher auf diese Seite. Wenn sie das Radio anstellt, dreht sie auf den Ostsender MDR und nicht den Bayrischen Rundfunk.

Nur einer der Mödlareuther hat in den vergangenen 20 Jahren gewagt, die Grenze über den Tannbach zu überschreiten. Heiko Mergner, 38, Sohn der Bäuerin Karin Mergner. Er hat im Osten einen Hof gebaut. Doch war das kein Bekenntnis der Verbundenheit, sondern Pragmatismus. Es gab Fördermittel aus Thüringen. Feld für Feld hat er ehemalige LPG-Grundstücke gepachtet. „Es war damals eine günstige Gelegenheit, sich eine Existenz aufzubauen“, sagt er. Heute ist er der größte Bauer im Dorf. Die im Osten haben lange über ihn gelästert. Der arrogante Bayer, der in Thüringen sein Schnäppchen macht! Heiko Mergner ficht das nicht an: „Wer so redet, hat keine Ahnung.“

Und heute? Den Mödlareuthern geht es gut. Die Probleme, die andernorts im Osten so drängen, spielen hier kaum eine Rolle. Keine Häuser, die leer stehen, weil die Menschen woanders ihr Glück suchen. In den vergangenen Jahren sind sogar vier Familien zugezogen. Es gibt elf Kinder, keine Arbeitslosen. Das Museum, das schon jetzt mehr als ein Dutzend Menschen beschäftigt, soll zu einem Dokumentationszentrum der deutschen Teilungsgeschichte ausgebaut werden. Warum soll man da irgendetwas ändern? Wer sollte auch nachgeben, wenn man die Grenze tatsächlich verschiebt? Sollten aus den Bayern Thüringer werden? Oder aus den Thüringern Bayern? Nichts von beidem kann sich Bürgermeister West Klaus Grünzner vorstellen. Kollege Ost ist pragmatischer, Marcel Zapf, 27, war noch ein Kind, als die Mauer fiel.

Schon heute pendeln die Jüngeren zwischen den Ländern. Sportverein und Freunde hier, Schule und Familie dort. „Für die nächste Generation wird es kein Ost und West und auch kein Bayern und Thüringen mehr geben“, sagt Zapf. Da werde auch über die jahrhundertealte Ländergrenze Gras wachsen.

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