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Brandenburg: Ansteckender Streik

Zur Ärzte-Demonstration gegen „Einheitsvergütung“ kamen mehr Teilnehmer als erwartet nach Berlin

Berlin/Potsdam - Die Hitze im Großen Saal des Hotel Maritim an der Stauffenbergstraße in Berlin war schon um 11.30 Uhr erdrückend. Ohmachtgefahr herrschte gestern in der Menschenmenge – die meisten winterfest gekleidet, bereit für einen Marsch durch die Kälte.

Und der Saal füllte sich immer weiter. Wer zusammenklappen würde, hätte sich auf schnelle Hilfe verlassen können: Bis auf ein paar Hotelangestellte und Journalisten war jeder Arzt. Aus ganz Deutschland sind sind sie gestern nach Berlin gekommen – allein 2000 Ärzte und Praxismitarbeiter sollen aus Brandenburg gekommen sein, wo etwa 70 Prozent der 3300 Praxen geschlossen blieben – und waren dem Aufruf der rund 40 Ärzteverbände gefolgt. Am Mittwoch, am „Tag der Ärzte“, demonstrierten sie bundesweit gegen Missstände im Gesundheitssystem, die sich unmittelbar auf ihren Arbeitsalltag auswirken. „Zuerst stirbt die Praxis – dann der Patient“ und „Kranke Reformer heilen keine Patienten“ – die Sprüche auf den selbstbemalten Protestschildern waren vielfältig, aber eindeutig.

Die Stimmung heizte sich weiter auf, als Vertreter der Ärzteverbände auf der Bühne begannen, den Demonstranten aus der Seele zu sprechen: „Wir wollen nicht länger auf dem Rücken unserer Patienten staatliche Rationierung durchführen müssen“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe zum Auftakt – und die Menge tobte. Vor Zuspruch. Um 11.50 Uhr musste das Hotel seine Türen schließen. Fassungsvermögen ausgeschöpft. 6000 Menschen sollen zu diesem Zeitpunkt in den eleganten Hallen gewesen sein. Florian Altvater hatte Glück. Der junge Hautarzt aus Bremen war rechtzeitig da und stand im warmen Hotelsaal, während draußen vorm Haupteingang Tausende in der Kälte warteten. „Immer mehr leisten und immer weniger bezahlen – die Rechnung geht nicht auf“ stand auf dem Transparent, das er hoch hielt. Seit neun Jahren ist er in Bremen niedergelassen. „Seither hat der bürokratische Aufwand in meiner Praxis stetig zugenommen“, beklagt er und fügt hinzu: „Durch das irrsinnige Punktesystem, mit dem wir unsere Leistungen abrechnen müssen, wissen wir erst ein halbes Jahr später, was wir erwirtschaftet haben. So kann kein Selbständiger vernünftig arbeiten.“

Auch Thomas Tüschen aus Bingen am Rhein hatte sich durchs Schneegestöber nach Berlin durchgekämpft, um gegen Punktesystem, Bürokratiewahn und schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren: „Wenn ich heute 20 Jahre jünger wäre, würde ich mich nicht noch einmal hier niederlassen – ich würde gleich nach Norwegen gehen“, sagte der Kinderarzt. „Wirklich Kranke sind absolut unwirtschaftlich für eine Praxis“, so sein Kollege Eckhardt Lindner aus Falkensee und lacht ein bisschen bitter als er vorschlägt: „Am besten schleust man möglichst viele Kinder mit Erkältung durch – dann kann man seine Einnahmen vielleicht machen“.

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