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Landeshauptstadt: Als Nazigegnerin im August-Stift

Zeitzeugen berichten über die Geschichte des Wohnquartiers Am Neuen Garten

Zeitzeugen berichten über die Geschichte des Wohnquartiers Am Neuen Garten Von Erhart Hohenstein Einst Villenviertel für Adel und Großbürgertum wandelte sich das Stadtquartier Am Neuen Garten nach 1945 zur Europazentrale des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Erst 1994 von den Besatzern verlassen, sind die Villen und Landhäuser des „verbotenen Städtchen“ heute wieder im Besitz der Alteigentümer oder wohlhabender Bürger. Die URANIA hatte am Mittwochabend Zeitzeugen eingeladen, die Etappen dieser Entwicklung miterlebten. Am Tisch im überfüllten Vortragsraum der Villa Arnim saß für den Adel Helga Fritzsche, die der Familie von Hentig entstammt. Ihr Vater hatte sich als Gesandter in Kolumbien den Nationalsozialisten verweigert und war von ihnen zwangspensioniert worden. Er schickte seine Tochter auf das nach der Gemahlin Kaiser Wilhelm I. benannte Augusta-Stift – mitten in die Auseinandersetzung zwischen Anhängern und Gegner des Naziregimes. Sie spielten sich zwischen den Schülerinnen ab, die monarchistisch gesinnten Lehrkräfte hielten sich weitgehend heraus, ohne von ihrer Abneigung gegen den Emporkömmling Hitler ein Hehl zu machen. Selbst Lehrer mit dem Parteibonbon am Revers denunzierten von Hentig nicht, die sich schon als 14-Jährige rigoros gegen die Naziherrschaft aussprach. Sanfteren Charakters war ihre Mitschülerin Vera Schieckel, geborene Oppenheim. Ihr jüdischer Großvater wurde bereits durch die Nazis enteignet, die Familie von den Sowjets 1945 dann auch aus der ihnen belassenen Remise vertrieben. Die russischen Offiziere erfüllten ihre Zusage nicht, das außerhalb des verbotenen Städtchens liegende Haus an den als „Opfer des Faschismus“ anerkannten Großvater zurückzugeben. Die Familie emigrierte. 1945/46 wartete Hermann Schlüter im heute als Gedenkstätte zugänglichen KGB-Gefängnis Leistikowstraße 86 Tage auf seine Hinrichtung. Weil der Realgymnasiast mit drei Kameraden den Russisch-Unterricht boykottiert hatte, wurde er wegen feindlicher Einstellung zur Sowjetunion zum Tode verurteilt. Er war damals erst 15 Jahre alt und wurde vielleicht deshalb zu 20 Jahren Zwangsarbeitslager „begnadigt“. Im Pfarrhaus der Pfingstgemeinde aufgewachsen ist Stefan Schalinski. Das Gebäude war – von hohen Mauern umzäunt – aus dem KGB-Städtchen herausgenommen worden. So bekam Schalinski vieles vom Alltag dort mit. Dem heutigen Leiter der Evangelischen Grundschule war es eine Genugtuung, als er den von den Russen als Kino genutzten Turnsaal wieder übernehmen konnte. Den Zuschlag für die Heizungserneuerung erhielt die Firma Schlüter – deren Seniorchef nach Kriegende schräg gegenüber in der Todeszelle auf seine Erschießung gewartet hatte.

Erhart Hohenstein

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