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Homepage: Der Riss wirkt nach

Robert Thalheim hat mit „Netto“ einen preisgekrönten Film über einen Wendeverlierer und seinen Sohn gedreht

Robert Thalheim hat mit „Netto“ einen preisgekrönten Film über einen Wendeverlierer und seinen Sohn gedreht Von Jan Schulz-Ojala Schon schön, in die Kulisse des eigenen Films zu fallen wie in einen Traum. Und gleich wieder aufzuwachen daraus, denn die Zeit ist schon wieder drüber weggegangen. „Villa Orange“ heißt der Laden an der Eberswalder Straße 35 jetzt, an dem Regisseur Robert Thalheim im Vormittagslicht vorbeispaziert – eine Kneipe mittlerweile, tauglich für „Brecht-Brel-Abende“ zum Beispiel, wie ein ans Fenster geklebter Zettel verrät. Im Film war das hier noch das verrottete Elektronikschrottwohnklo eines Ossi- Verlierers namens Marcel Werner. Eine klitzekleine Hommage auf die frühere Kunstnutzung haben die neuen Betreiber auch hinterlassen: Dicht hinter den ziemlich blinden Scheiben thront ein ausgeweideter, vor sich hin staubender Volksempfänger. Letzten Sommer hat Robert Thalheim, 30 Jahre alt und Student an der Filmhochschule Babelsberg, die Location für zwei kurze Wochen unsterblich gemacht: Hier drehte er seinen Film „Netto“. Binnen zwei Tagen verwandelte er damals mit seinem Team den seit fünf Jahren leer stehenden Laden mit Sperrmüllmöbeln in eine Wohnung für einen, der nach der Wende den Anschluss ziemlich verloren hat und die Frau und den halbwüchsigen Sohn auch. Einen, der beim China-Imbiss seine Lebenslügen und seine Strohhalmpläne vom Personenschützer-Business rausquatscht. Einen, dem der Volksbühnen-Star Milan Peschel – er spielt den Marcel Werner – irres Funkelgesicht und dauernölende Quasselstimme gibt. Marcel Werner, die Null. Die Null im Unterhemd, die in den Tag reinpennt und von sich selbst noch nicht weiß. Bis der 15-jährige Sohn Sebastian, schon fest gebucht fürs Eigenheim-Jugendzimmer bei schwangerer Mama und smartem Westfreund, nach zwei Jahren Funkstille eines Tages ans Fenster klopft. Und dahinter der Papa auf Schussfahrt ins Nichts. Wessis und Ossis: 15 Jahre nach dem Mauerfall, so heißt es gern, sind diese Abgrenzungskampfbegriffe vorbei. Und doch, der Riss wirkt nach. „Der betrifft alle, die bis zur Pubertät im Osten gelebt haben“, sagt Robert Thalheim. „Wir sind die letzte Generation, die davon aus eigener Erfahrung erzählen kann“, ergänzt der junge Regisseur. Dass da ein ganzes Wertesystem verschwindet, mit dem man aufgewachsen ist. Dass man eine ganze Elterngeneration auf einmal kippen sieht. Gut, wenn so jemand einen Sohn hat, der in der Schule Bewerbungen schreiben trainiert und Papa fürs Vorstellungsgespräch coachen kann. Das klingt dann so: „Herr Werner“, fragt der Film-Sohn todernst seinen wirren Papa, „welche Vorstellungen verbinden Sie denn mit Ihrer Arbeit in unserem Unternehmen?“ Das ist mal zum Heulen komisch. Und brülltragisch zugleich. Witzig – und ernst – in der Wirklichkeit dagegen: Der 30-jährige Robert Thalheim, der sich so perfekt einfühlt, ist gar kein Ossi. Sondern waschechter Spandauer, Sohn von gut situierten Kaufleuten – und das Einfamilienhäuschen, in dem Sebastians Mama ein neues Zuhause findet, ist nichts anderes als Thalheims eigenes Elternhaus. Wie kommt jemand mit lupenreiner West-Sozialisation zu solchem Thema? Wie stemmt der so stimmig eine Ost-West-Story? Ganz einfach: langsam. Und sicher. Angefangen hat diese besondere Neugier vor zehn Jahren. Da ging Thalheim zum Friedensdienst für anderthalb Jahre nach Auschwitz. Auschwitz, das war gar nicht so das Schock-Ding. Aber Polen. Tiefer Rest-Ostblock-Osten also. „Das war damals das Exotischste, was man als Spandauer nach der Schule machen konnte.“ Dann entdeckte Thalheim Krzysztof Kieslowskis „Dekalog“, den wuchtigen TV-Zyklus, mit dem der polnische Regisseur weltbekannt wurde: eine künstlerische Offenbarung. Danach kam der Besuch in der legendären Filmschule in Lodz. Und das Herausgeben eines „mitteleuropäischen Kulturmagazins“ namens „Plotki“. Und ein Kurzfilm: „Granica“ (Grenze). Nachdringlich unaufdringlich, wie er auch heute auftritt und durch seine Kiez-Kulissen wandert, ist Robert Thalheim über eine Grenze gegangen. Auch die Entscheidung für die Babelsberger HFF und nicht die West-Berliner dffb: Absicht. „Ich konnte mit dieser Ernsthaftigkeit, mit der Ost-Tradition etwas anfangen.“ Und irgendwann die Freundin aus dem Osten, irgendwann – und endlich – das Zusammenwohnen in Prenzlauer Berg.

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