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Homepage: „Die Kinder müssen das Lernen lernen“

Nach dem PISA-Schock: Prof. Marianne Horstkemper über Gestaltungsspielräume und Lernkompetenzen

Müssen unsere Lehrer nach den schlechten Ergebnissen von PISA noch einmal an die Universität?

Lehrer müssen auf jeden Fall ihr Leben lang durch Fort- und Weiterbildung lernen. Das muss aber nicht zwingend im regulären Unibetrieb stattfinden.

Wo gibt es vor allem Nachholbedarf?

Bei der Evaluierung durch die OECD haben die Kollegen aus den skandinavischen Ländern durchaus zu Recht gefragt, warum wir unsere Lehrer noch so ausbilden wie zu Zeiten Friedrich des Großen. Andere Länder sind beim individualisierten Unterricht wesentlich weiter. Dort wird nicht überwiegend Frontalunterricht erteilt, sondern Lehren und Lernen wird adaptiv an den Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet.

Was ist individualisierter Unterricht?

Lernen ist ein sehr individueller Prozess. Jedes Kind lernt anders und braucht auch je spezielle Unterstützung. Es muss aktiv werden können. Nehmen Sie etwa die Redeanteile von Lehrkräften in unserem üblichen Unterricht – die sind derart groß, dass Schüler sehr lange brauchen, um überhaupt einmal eine Frage stellen zu können. Andere Formen von Unterricht können dies Problem besser lösen.

Wie sieht das aus?

Es gibt ein gut funktionierendes Beispiel in Potsdam. Wir haben über mehrere Jahre hinweg Unterricht und dessen Entwicklung an der Montessori-Schule begleitet. Der Leitsatz von Montessori lautet: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Das heißt, es kommt stark darauf an, den Schülern gleichzeitig mit dem fachlichen Wissen Lernkompetenzen und -strategien zu vermitteln. Es geht also vor allem darum, das Lernen zu lernen. Jeder soll dabei nach seinen Voraussetzungen das finden, was ihm am meisten nützt. Der eine braucht vor allem visuelle Materialien, der andere mehr akustische, ein dritter lernt am besten in der Gruppe, andere brauchen strukturierte Anweisung zum individuellen Arbeiten. Die wesentliche Kompetenz der Lehrer müsste nun darin bestehen, dies herauszufinden, sich auf die einzelnen Schüler einzustellen und ihnen entsprechende Aufgaben und Materialien zu verschaffen. Auch müssen sie sich mit ihren Kollegen darüber austauschen. Diese Art der Arbeit, für die wir in Potsdam gute Ansätze haben, gilt es auszubauen.

Wie lässt sich Lernen lernen?

PISA hat sehr deutlich gemacht, dass wir Schwierigkeiten haben mit Heterogenität umzugehen. Lerngruppen sind niemals homogen, die Jahrgangsklasse versucht zwar, dies hinzubekommen, aber es gibt bei Schülern ungeheure Entwicklungsunterschiede, auch in einer Altersgruppe. Damit müssen Lehrkräfte umgehen können. Gute Schulen finden das nicht belastend, sondern nutzen es. Die Montessori-Schule etwa arbeitet damit bewusst, indem sie die Gruppen spreizt, also mehrere Jahrgänge gemeinsam unterrichtet. So können die Kinder untereinander je nach ihrem Lerntempo Aufgaben auswählen, während sie von den Lehrern beraten werden. Was nicht heißt, dass die Kinder machen können, was sie wollen: die Lehrkräfte sind wichtig als Coaches.

Was ist das Ziel?

So erreicht man auf der einen Seite eine stabile Gruppe, in der sich die Kinder gegenseitig helfen und unterstützen können. Kinder lernen manchmal besser von Gleichaltrigen als von Lehrkräften. Insbesondere wenn gegenseitige Unterstützung mit gelehrt wird. Lernen lernen heißt also, dass von Anfang an Kinder gewohnt sind, morgens einen Plan zu machen: was nehme ich mir für den Tag vor, was ist realistisch, wie lerne ich am besten, was brauche ich. Das muss man mit den Kindern reflektieren, manche Schulen setzen dafür so genannte „Lerntagebücher“ ein. Die dokumentieren, was schon gut läuft und wo noch Lücken sind. Es gibt Schulen, die für die Vermittlung von Lernkompetenz spezielle Curricula entwickeln. Wichtig ist, dass es innerhalb einer Schule von allen Lehrkräften getragen wird. Der Lehrer als Einzelkämpfer ist dabei nicht sinnvoll.

Einer Ihrer Kollegen wies unlängst darauf hin, dass an deutschen Schulen falsch mit „Fehlern“ umgegangen werde.

Wir müssten tatsächlich eine „fehlerfreundliche“ Lernkultur entwickeln. Man sagt, dass Fehler Fenster auf den Lernprozess sind. Das muss man gemeinsam mit den Kindern auswerten. Die Angst vor dem Fehler sollte man vor allem senken. Natürlich sollen sich Schüler nichts Falsches einprägen. Aber etwas auszuprobieren, selber Erkenntnisse zu suchen, das erfordert auch Fehler machen zu dürfen. Auch Eltern müssen lernen, erst einmal die erbrachte Leistung zu würdigen und im zweiten Schritt zu schauen, wie man das Ergebnis noch verbessern kann.

Was geben Sie ihren Lehramtsstudenten mit auf den Weg?

Das Wichtigste ist zunächst, dass sie ihren eigenen Lernprozess noch einmal reflektieren. Die Forschung zur Wirksamkeit von Lehrerbildung sagt, dass die Lehrer nicht so unterrichten, wie ihnen das an der Hochschule vermittelt wird, sondern viel stärker so, wie sie selbst gelernt haben. Der erste Schritt ist also eine Reflexion wie man selbst gelernt hat, was davon nützlich und sinnvoll war, was man aus der Fachliteratur und Unterrichtsforschung weiß und wo man lieb gewonnene Vorurteile überprüfen sollte, wo es Alternativen gibt.

Und weiter?

Der zweite Schritt ist in Schulen zu gehen, die neue Ansätze erproben. Studenten müssen so etwas sehen und erleben. Das wirksamste ist, zu erleben, wie Kinder lernen, wenn man ihnen dazu vielfältige Gelegenheiten bietet. Dafür brauchen wir Schulen, mit denen wir eng kooperieren, um so etwas wie forschendes Lernen im Studium zu ermöglichen. Eine dritter wichtiger Erfahrungsbereich liegt außerhalb des Unterrichts. Zukünftige Lehrer sollten Kinder dabei erleben, wie sie miteinander umgehen, auch sich anstrengen und viele Dinge unaufgefordert lernen, wenn das nicht „Pflicht“ ist: etwa in Kitas, Jugendheimen, Sportvereinen oder Umweltprojekten. Die Kooperation über die Schule hinaus ist heute sehr viel wichtiger geworden. PISA zeigt ganz deutlich, dass zum Auffangen der sozialen Nachteile mehr nötig ist als Unterricht mit Schulbuch und Overheadprojektor.

Sollte man tatsächlich schon in den Kitas anfangen, die Kinder zu fördern?

Das ist ein guter Weg, der nun in Gang kommt. Vor allen Dingen muss der Übergang zwischen Kindergarten und Schule besser gestaltet werden. Wir überlegen derzeit, wie integrierte Studiengänge für Lehrkräfte und Erzieher aussehen könnten. Bislang kommen sie aus sehr unterschiedlichen Ausbildungen. Es würde die Kooperation vermutlich aber sehr beflügeln, wenn wir hier etwas bewegen könnten. In Finnland ist es ganz normal, dass auch die Erzieher an der Universität qualifiziert werden. Es gibt nun auch zwischen der FH Potsdam, an der die Erziehen ausgebildet werden und den Lehramtsausbildung der Universität erste Kontakte. Zudem sind wir gerade dabei einen Innovationsverbund zu gründen, zur Verzahnung von Praxis und Hochschule. Lehrer sollen mit Studierenden und Wissenschaftlern zusammen gebracht werden, um neue Wege zu gehen.

In Großbritannien kommen die Kinder schon mit fünf Jahren in die Schule.

Deutschland ist eines der Länder in denen die Kinder mit am spätesten eingeschult werden. Zudem sind wir auch noch Weltmeister im Sitzenbleiben, sodass unsere Kinder lange Schleifen durch die Schulen drehen. Aus den PISA-Ergebnissen lässt sich schließen, dass das wenig förderlich ist. Die altersgemischten Lerngruppen an Reformschulen haben gezeigt, dass es sinnvoll sein kann schon die Fünfjährigen einzuschulen, wenn sie können mit Sechs- und Siebenjährigen eine überschaubare Gruppe bilden.

Wo liegt der Vorteil?

Dass immer nur ein Drittel aus der Gruppe herauswächst und durch jüngere ersetzt wird. Dann rücken die ehemals Kleineren auf und haben Erfolgserlebnisse mit denen sie sich stabilisieren können. Unter solchen Bedingungen spricht überhaupt nichts dagegen, schon Fünfjährige einzuschulen. Das Prinzip der gemischten Altersgruppen muss auch nicht in der Grundschule enden, die Montessori-Schule hat gezeigt, dass dies auch in der Sekundarstufe I sinnvoll sein kann.

Welche Bedeutung messen Sie den Ganztagsschulen bei?

Deutschland ist eines der wenigen Schulsysteme, das nicht ganztägig organisiert ist. Der Ganztagsbetrieb würde die Gestaltungsspielräume beträchtlich erweitern. Es ist sehr begrüßenswert, dass es dazu gerade auch hier in Brandenburg eine ganze Reihe von Modellversuchen gibt. Wenn zusätzlich im neu gegründeten Typus der Oberschule so viel Integration wie möglich erprobt wird, um so den intelligenten Umgang mit Heterogenität zu stärken, dann hätten wir viel aus PISA gelernt. Ganztagsschulen bieten dabei entscheidende Vorteile. Hier bekommt beispielsweise die Diagnosefähigkeit von Lehrern neue Chancen. Sie haben weit mehr Gelegenheiten, die Unterschiede zwischen den Kindern sensibel wahrzunehmen und mehr Zeit spezifische Förderstrategien zu erproben. Das gilt nicht nur für die Risikogruppe am unteren Ende der Skala. Auch für die, für die es im Normalunterricht zu wenig anspruchsvoll ist. Am besten funktionieren die Klassen, in denen von allen viel verlangt wird. Hier ist die Leistungsmotivation am größten. Ein leichtes Maß an pädagogisch verantworteter Überforderung ist hilfreich, um die Schüler in die nächst höhere Entwicklungsstufe zu bringen.

Und das Elternhaus?

In keinem Land hat die soziale Herkunft der Kinder bei internationalen Studien eine so große Rolle gespielt wie in Deutschland. Das zeigt auch, dass es anderen Schulformen besser gelingt, den Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Bildungserfolg aufzuknacken. Der beste Indikator für Bildungserfolg ist die Lesefreundlichkeit des Elternhauses, die Frage wie viele Bücher es dort gibt, wie viel gelesen wird und ob über die Inhalte gesprochen wird. Schule kann das zwar nicht alles kompensieren, aber sie kann sehr wohl etwas tun. Aktive Leseförderung ist äußerst wichtig: den Schülern Freude am lesen vermitteln, zeigen wie aktiv man damit umgehen kann, wie man mit dem Gelesenen weiter arbeiten und auch spielen kann.

An deutschen Schulen wird der Computer weniger genutzt als im Ausland.

Computer sind ganz sicher nicht die Wunderwaffe mit der die Motivation der Schüler gesteigert oder das Lernen technologisch optimiert wird. Viele Erwartungen die an den Computer geknüpft wurden, waren oft eine solche Technologieillusion. Menschliches Lernen funktioniert einfach anders. Trotzdem plädiere ich dafür, den Computer als ein intelligentes Lernwerkzeug so früh es geht zu nutzen. Logisches Schließen und strategisches Vorgehen lassen sich auf diesem Wege üben. Allerdings müssen pädagogische Konzepte und Strategien dahinter stehen. Den Computer bloß als Vokabeltrainer einzusetzen, bringt kaum etwas. Er muss eingebaut werden als Werkzeug mit dem man sich Information beschaffen und Produkte gestalten kann.

Manch ein Hochschuldozent meint schon heute bei den nachwachsenden Generationen Defizite festzustellen. Geht Ihnen das auch so?

Das ist seit Jahrhunderten ein Thema, seit den alten Griechen gibt es Klagen, dass die Studierenden mit immer weniger Kompetenzen an die Uni kommen. Dem ist aber nicht so. Längsschnittstudien haben ergeben, dass die Schüler heute immer klüger und intelligenter werden. Allerdings fehlt es vielen Schülern an der Kompetenz, den eigenen Lernprozess zu organisieren. Die Bedingungen an einer Massenuniversität sind allerdings nicht allzu günstig, solche Defizite aufzuarbeiten. Und auch die Arbeitssituation an den Brandenburger Schulen im Zeichen knapper Kassen, zurückgehender Schülerzahlen und drohender Schulschließungen sind nicht sehr förderlich für Reformbemühungen. Aber da kann man nur mit Erich Kästner sagen: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.“

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Marianne Horstkemper hat seit 2000 eine Professur für Schulpädagogik an der Universität Potsdam inne.

Ihre Schwerpunkte sind Schulentwicklung sowie Aus- und Fortbildung von Lehrern.

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