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"Jüdische Allgemeine" wird 70: Die Sicht der Dinge

Karl Marx und das schwarze Brett: Die „Jüdische Allgemeine“ wird 70. Die Sorge, zu einer „Verbandspostille“ zu werden, machte Mitte der Nullerjahre die Runde.

Am Anfang steht ein großer Name. Ein gewisser Karl Marx aus dem Saarland, verdienter Veteran des Ersten Weltkrieges, kehrt nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten 1946 aus dem britischen Exil nach Deutschland zurück. Dort wird der Journalist und Namensvetter des berühmten kommunistischen Denkers Herausgeber des „Jüdischen Gemeindeblattes für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen“. Marx legt damit den Grundstein für das wichtigste Presseorgan jüdischen Lebens in Deutschland. Heute, 70 Jahre später, ist die Zeitung bekannt als „Jüdische Allgemeine“ (JA).

Die vom Zentralrat der Juden herausgegebene Wochenzeitung will viel: aktuelle politische Themen aufgreifen, schwarzes Brett für die jüdischen Gemeinden in Deutschland sein und, etwa mit der Klatsch-Rubrik „Plotkes“, auch den Boulevard bedienen. Alles gewissermaßen durch die jüdische Brille. Um das Selbstverständnis der Zeitung gab es in der Vergangenheit Verstimmungen. Einigen Mitarbeitern passte die enge Bindung an den Zentralrat nicht.

Die Sorge, zu einer „Verbandspostille“ zu werden, machte Mitte der Nullerjahre die Runde. In diesen Kontext fiel auch das Ende der Zusammenarbeit mit dem damaligen Chefredakteur Christian Böhme, der heute Politik-Redakteur des Tagesspiegels ist. Er verließ die „JA“ 2011.

Böhme war eine bemerkenswerte Personalie für die „Allgemeine“. Der Historiker war der erste nicht jüdische Chefredakteur in der Geschichte der Zeitung. Es war der damalige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Geschäftsführer der „JA“, Michel Friedman, der Böhme die Leitung der Redaktion übertrug. Für ihn habe allein die journalistische Professionalität der Bewerber gezählt, nicht die Religionszugehörigkeit, sagt er dem Tagesspiegel.

Mehr journalistische Qualität

Friedman wollte der „JA“ zu mehr journalistischer Qualität verhelfen und setzte sich erfolgreich dafür ein, das bis dahin 14-tägig erscheinende Blatt zu einer Wochenzeitung zu machen. In Friedmans Zeit bei der „JA“ fiel auch die Verleihung des European Newspaper Awards für die Typografie der Zeitung. 2009 wurde die „JA“ erneut ausgezeichnet. „Ich glaube nicht an Verbandsblättchen“, sagt Friedman. Es sei legitim und notwendig, die Perspektive der Betroffenen in Diskussionen einzubringen. Nach dem Weggang Christian Böhmes zog die Redaktion in die Johannisstraße in Berlin-Mitte um, in direkte Nachbarschaft zum Leo-Baeck-Haus, wo auch der Zentralrat der Juden sitzt. So kam es zumindest räumlich zu einer weiteren Annäherung von Redaktion und Zentralrat.

Dass es eine Zeitung gibt, die die Position des Zentralrates zu aktuellen Themen wiedergibt, findet dessen amtierender Vorsitzender Josef Schuster gut und wichtig. Die „JA“ greift regelmäßig auch aktuelle Debatten auf, findet dann immer wieder zurück zur „jüdischen“ Sicht auf die Dinge. Auf Christian Böhme folgte 2011 dessen bisheriger Vize David Kauschke als Chefredakteur nach. „Selbstverständlich geben wir Mitteilungen des Zentralrats wieder und berichten über dessen Aktivitäten“, sagt Kauschke.

Die Inhalte der Zeitung reichten aber darüber hinaus. Er verweist auf Artikel zum Brexit, zum Nahverkehr in Tel Aviv oder dem Terroranschlag von Orlando. „Können Sie da einen Fokus auf den Zentralrat entdecken?“ 2005 bekam die „JA“ Konkurrenz. Die monatlich erscheinende „Jüdische Zeitung“ (JZ) trat als Gegengewicht an und machte bereits auf Seite eins ihrer ersten Ausgabe klar, dass sie sich vom Alleinvertretungsanspruch des Zentralrats distanzierte. Sie wollte kleine jüdische Gemeinden zu Wort kommen lassen, die im Zentralrat nicht organisiert sind.

Schon ihre Startauflage von 39 000 Exemplaren war eine Kampfansage. Der erhoffte Erfolg blieb zwar aus, die „JZ“ wurde 2014 eingestellt. Dennoch war es ein deutliches Signal, dass sich nicht alle jüdischen Gemeinden vom Zentralrat vertreten fühlen. Zentralratschef Josef Schuster räumt ein, dass auch für den Zentralrat die Gefahr einer gewissen Betriebsblindheit bestehe, sagt aber auch: „Man muss nicht jede Kritik ernst nehmen.“ Dennoch sei eine kritische Außenperspektive gut und wichtig.

Auch die „Jüdische Allgemeine“ kämpft mit der Krise der Printzeitungen: Die verkaufte Auflage ist seit 1999 um mehr als 30 Prozent gesunken. Die Druckauflage liegt bei 10 000 Exemplaren, die Abonnentenzahlen sind in der vergangenen Jahren stabil geblieben. Chefredakteur Kauschke will vor allem die Social-Media-Kanäle ausbauen. Mit rund 15 000 Facebook- und fast 7000 Twitter-Followern sei man da auf einem guten Weg.

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