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Auschwitzdiskurs im Werk Martin Walsers

Es kommt nicht oft vor, dass eine Dissertation über die Fachpresse hinaus ein breites feuilletonistisches Echo erfährt. Im Falle von Matthias Lorenz, der seine Arbeit „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ in der vergangenen Woche an der Universität Potsdam vorstellte, waren die Rezensionen nicht nur zahlreich, sondern auch äußerst kontrovers. Für die einen handelt es sich um ein „monströses, im Gehalt denunziatorisches Buch“, das „auf wissenschaftlich indiskutable Weise“ argumentiere, während andere Lorenz „philologische Sorgfalt“ und „genaue Textarbeit“ attestieren und seine Darstellung „in hohem Maße überzeugend“ finden.

Die Aggressivität im Ton einiger Rezensionen überrascht mit Blick auf den Gegenstand der Studie nicht: Lorenz untersuchte auf rund 500 Seiten die Judendarstellungen im Werk Martin Walsers sowie die Funktion seines Auschwitzdiskurses. Bereits die Debatten um Walsers Friedenspreisrede (1998) und um seinen Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) wurden lautstark und polemisch geführt. Hinzu kommen die provozierenden Thesen der Dissertation: Lorenz weist nach, dass die antisemitischen Darstellungen von Juden und die Rhetorik der Deutschen als Opfer im Werk von Walser Kontinuität haben.

Die Tonart des jungen Wissenschaftlers, Lorenz ist Jahrgang 1973, ist eher überlegt und abwägend. In seinem überwiegend frei gesprochenen Vortrag – auch das eine Seltenheit – zeichnete er Schritt für Schritt den eigenen Erkenntnisprozess nach, von der ersten Irritation nach der Lektüre vom „Tod eines Kritikers“ bis zu dem vorliegenden Befund. Die zuhörenden Studierenden bekamen auf diese Weise gleich noch eine anschauliche Einführung in selbstkritisches wissenschaftliches Arbeiten geboten. Denn entgegen den Vorwürfen seiner Kritiker machte es sich Lorenz nicht leicht; statt Walser pauschal als Antisemiten abzuurteilen, nahm er ihn und seine Argumente ernst. Was allerdings zur Folge hatte, so Lorenz, dass sich die Analyse im Ergebnis gegen Walser richtet.

Dem Literaten weist Lorenz nach, dass die Texte antisemitische Stereotypen aufweisen. Distanzierungssignale lassen sich in den Texten nicht finden, im Gegenteil: durchgehend nutzt Walser das Muster der Täter-Opfer-Umkehr. Als Beleg führte Lorenz unter anderem eine Szene aus dem Roman „Halbzeit“ an, dessen Hauptfigur, ein Landser, seine Leiden mit allen Insignien eines Shoa-Überlebenden erzählt, während sein jüdisches Gegenüber ausschließlich Nationalismus und Militarismus „beweist“.

Die übliche Trennung zwischen dem impliziten und dem expliziten Autor, also zwischen dem Schriftsteller, dem literarische Freiheit zustehe und dem politischen Menschen, der sich in Statements, Reden und Essays äußert, ist im Falle von Walser nicht möglich. „Es gibt keinen a-politischen Walser“, diagnostiziert Lorenz, nach der Lektüre zeitgleich entstandener literarischer und essayistischer Arbeiten Walser, die zum Teil bis in den Wortlaut hinein textidentisch seien. Walser arbeite an einem „nationalem Wir“, einem Wir, dessen letzte Gemeinsamkeit die Schuld an Auschwitz sei. Die Schuld vereinigt – und schließt aus, etwa wenn Walser der Teilnahme deutsch-jüdischer Intellektueller am Diskurs der deutschen Vergangenheitsbewältigung eine Absage erteilt.

Einige Zuhörer am Neuen Palais wollten sich ihre Wertschätzung von Walsers Literatur nicht trüben lassen und konfrontierten Lorenz mit Textpassagen, um seine Thesen zu widerlegen. Sie begegnetem einem geduldigen und insistierenden Gesprächspartner, der seine Untersuchungsmaterial genauestens gelesen hatte.

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