zum Hauptinhalt
Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10. November 1989.

© Wolfgang Kumm/dpa

Die Narben der Wiedervereinigung: „Eine allgemeine ostdeutsche Identität gibt es nicht“

Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Wunden der Wendezeit nicht verheilt. Die Gründe dafür wurden jetzt im Potsdamer Minsk diskutiert.

Von Richard Rabensaat

Wo sind die „Narben“ im Wiedervereinigungsprozess der beiden Teile Deutschlands? Das wollte der Moderator Aljoscha Begrich zusammen mit der Kulturwissenschaftlerin Judith Rinklebe und dem Soziologen Steffen Mau am Donnerstagabend im Kulturhaus Minsk erkunden. Immer wieder lädt das Kunsthaus anlässlich aktueller Ausstellungen zu Workshops, Diskussionsreihen und anderen Veranstaltungen ein. Seit 3. Juni läuft dort die Schau „Werk Statt Sammlung. Kunstwerke aus der Sammlung Hasso Plattner“ mit zahlreichen Vertretern ostdeutscher Kunst und zeitgenössischen Werken von Wilhelm Klotzek.

Das Unterfangen der Diskussion „Narben“ am Donnerstag erwies sich aber als eher schwierig und vieldeutig. Eigentlich sei die Wiedervereinigung ein hochinteressantes soziologisches Projekt gewesen, so Mau, der an der Berliner Humboldt-Universität unterrichtet.

Geboren 1968 und aufgewachsen in einem Rostocker Neubauviertel, hat Mau mit dem Buch „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ eine Verbindung von persönlicher Geschichte und soziologischer Betrachtung versucht. Das Zusammengehen zweier „antipodischer Gesellschaften“ sei trotz vieler Artikel und Veröffentlichungen noch immer nicht erfasst, findet Mau. Gegenwärtig finde eine gewaltbehaftete Verrohung des sozialen Konflikts statt.

Es ist zu wenig in die Köpfe investiert worden. Da ist nach der Wiedervereinigung vieles an breiten Teilen der Bevölkerung vorbeigelaufen.

Steffen Mau, Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität unterrichtet

„Es ist zu wenig in die Köpfe investiert worden. Da ist nach der Wiedervereinigung vieles an breiten Teilen der Bevölkerung vorbeigelaufen“, so Mau. Notwendig sei, intensiver miteinander über die Geschichte und die verschiedenen Befindlichkeiten zu diskutieren, abseits von formelhaften Formulierungen. Das sei aber nicht geschehen, nicht zuletzt, weil der ökonomische Umbruch im Osten zunächst einmal zur Konzentration des einzelnen auf eigene Überleben geführt habe. „Aber das Erlernen von Diskussionen ist möglich, man muss dafür Räume schaffen“, regt Mau an.

„Wir brauchen Orte, an denen Menschen sich begegnen und über ihre Erfahrungen sprechen können“, erklärt die im Publikum anwesende brandenburgische Ministerin für Wissenschaft und Kultur Manja Schüle (SPD). Zu diesen Räumen zähle das Minsk.

Unterschiedliche Sichtweisen auf die DDR

Wie unterschiedlich die Sichtweisen auf die DDR sind, hat der Dramaturg am Berliner Gorki Theater, Begrich, bei einem Theaterprojekt erfahren. Acht Frauen berichteten über ihre Erfahrungen im verblichenen sozialistischen Staat. „Die Sichtweise einer Jüdin, die aus Überzeugung für die Stasi tätig war, war natürlich eine ganz andere als die einer Frau, die für einen Parteifunktionär gearbeitet hat“, erinnert sich Begrich, „aber wer bin ich, darüber zu urteilen. Da treffen Welten aufeinander“.

Die Verschiedenheit der Sichtweisen auf die DDR bestätigt auch die nach der Wende im Prenzlauer Berg aufgewachsene Judith Rinklebe. Sie schildert, wie sich der Osten in viele Biografien eingeschrieben habe. Das sehe sie im Unterrichtsstil ihrer Schullehrer, in der Familie und bei Diskussionen mit Mitherausgeberinnen des von ihr initiierten „Possi - Magazin für (Post) Ostdeutsches Empowerment“.

Der untergegangene Staat sei nicht verschwunden, konstatiert sie. Viele hätten nach einem zunächst erlernten Ausbildungsberuf noch einmal ganz neu anfangen müssen. Das habe zu Brüchen geführt. Möglicherweise hätte eine gemeinsame Verfassung, wie sie der Runde Tisch am 12. März 1990 vorgeschlagen habe, eine Brücke zwischen Ost und West schlagen können, vermutet Rinklebe.

Als Mau zu den Unterschieden in Ost und West ein Seminar an der Universität anbot, wunderte er sich über das große Interesse. Bei seiner Vorbereitung stellte er dann fest, dass der Osten keineswegs so ausgeforscht sei, wie er gedacht hatte. Er mutmaßt, dass die „kollektive Abwärtsbewegung“, die im Osten zunächst stattgefunden habe, heute zu einer Abwertung anderer und zum Erstarken rechter Tendenzen führen könne. „Allgemeine Aussagen über die DDR zu treffen ist schwierig“, resümiert Begrich und Mau ergänzt: „Eine allgemeine ostdeutsche Identität gibt es nicht. Identität, das ist wie einen Pudding an die Wand nageln.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false