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Landeshauptstadt: Ein gelbes Dreirad zum 75.

Pfarrer Gottfried Kunzendorf hat viel erlebt. Aufs Altenteil zurückziehen will er sich noch lange nicht

Im Hausflur steht ein gelbes Wunderwerk von Fahrrad, besser Dreirad, mit tiefer gelegtem Sitz, speziellen Bremsen und Rückspiegel. Ein ungewöhnliches Geburtstagsgeschenk für einen Pfarrer, doch Gottfried Kunzendorf freut sich: „Damit gewinne ich meine Mobilität zurück.“ Soll heißen, der Jubilar, der morgen 75 Jahre alt wird, will sich trotz seiner Querschnittslähmung und mehreren Operationen keineswegs aufs Altenteil zurückziehen, sondern weiterhin Gottesdienste leiten und kirchenhistorische Vorträge halten.

Insofern ist das ungewöhnliche Fahrrad Symbol für einen ungewöhnlichen Mann, der sich durch Alter und Krankheit keine Schranken setzen lassen möchte. Gerade hat er erfahren, dass der Eigentümer des Wohnhauses von Henri de Catts seinem Vorschlag folgen und dort eine Tafel für den berühmten Vorleser Friedrichs des Großen anbringen wird – ein kleiner Sieg in Kunzendorfs schwierigem Bemühen um ein städtisches Gedenktafelprogramm. Kunzendorf möchte die „bedeutenden Potsdamer Persönlichkeiten, auf die wir stolz sein können“ und „deren Wirken dem Vergessen entreißen“. Schon bald nachdem er 1975 die Pfarrstelle in Bornstedt übernommen hatte, setzte er mit dem Zyklus „Sie ruhen auf dem Bornstedter Friedhof“ dafür ein Zeichen.

Ab 1984 folgten die alljährlichen Gedenkfeiern, später Gottesdienste für die Widerständler des 20. Juli 1944. Auslöser war für Gotfried Kunzendorf das Schicksal Kurt Freiherr von Plettenbergs, der in Bornstedt begraben liegt. Er hatte sich am 10. März 1945 aus einem Fenster des Gestapo-Gefängnisses in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße gestürzt, um nicht unter der Folter die Namen seiner Gesinnungsgenossen im Kampf gegen Hitler zu verraten. Als der Pfarrer 1980 zum 80. Geburtstag seines Vaters erstmals in den Westen reisen durfte, suchte er den Kontakt zum Sohn Plettenbergs und später zu vielen anderen Angehörigen der Widerständler. Misstrauisch betrachtete die Stasi Kunzendorfs Aktivitäten: Da saß doch tatsächlich ein Mann wie Richard von Weizsäcker im Pfarrhaus am Kaffeetisch!

Ein anderes Kaffeegespräch – mit einem Kölner Journalisten – bescherte Gottfried Kunzendorf allerdings bittere Stunden: Der Journalist warf ihm danach in einer Veröffentlichung unbegründeten „Aktionismus“ und die Nähe zu den „Preußenspielen der DDR“ vor. Zweifellos begünstigte die damals einsetzende differenziertere Bewertung Preußens das Anliegen des Pfarrers, doch warum sollte er diese Konstellation nicht nutzen? In die Lücken zu stoßen, die das diktatorische System ließ, hatte Kunzendorf schon früh gelernt.

Als er 1962 von seiner ersten Pfarrstelle in Luckau auf den Görden nach Brandenburg/Havel versetzt wurde, unterstellte ihm die Staatssicherheit ein „scheinbar progressives Auftreten“, um „Vorteile“ für seine Kirchengemeinde herauszuholen. Die Stadt untersagte das traditionelle Straßensingen am Weihnachtsmorgen, weil dadurch „die Stahlwerker im Schlaf gestört“ würden. Also zog der Kreisjugendpfarrer mit seinen Sängern in die Hausflure. Nachdem der Kirche Neubauten untersagt worden waren, baute er mit der Jungen Gemeinde einen Stall zum Treffpunkt aus. Gegen staatlichen Widerstand erreichte er, dass im Altenheim wenigstens an hohen Feiertagen Gottesdienst gehalten werden durfte – „wenngleich im Speisesaal unter dem Bild Walter Ulbrichts.“

Kunzendorf kämpfte also durchaus auch mit List und manchmal Schlitzohrigkeit für die Verbreitung des christlichen Glaubens. Gewiss hat ihn dazu die Lebenserfahrung befähigt, die er bereits in der Jugend sammelte. Zwischen Berlin-Rummelsburg, wo er am Silvestertag 1930 als Pfarrerssohn geboren wurde, und dem Abschluss des Theologiestudiums an der Humboldt-Universität lag die Flucht aus dem schlesischen Grünberg (Zielona Gora) und dann die von Berlin nach Lübecke in Westfalen. Dort nutzte er nach Kriegsende seine Schulkenntnisse, um für die Engländer zu dolmetschen und so die Familie mit zu ernähren. Wieder zurück in Berlin, baute Kunzendorf im Westteil sein Abitur, richtete sich auf eine Tischlerlehre ein und wurde dann doch zum Studium zugelassen. Zwischen den beiden Pfarrexamen half er die Rappbodetalsperre zu errichten und war im Weißenseer Werk „7. Oktober“ Elektro-Karrenfahrer, um die Arbeitswelt kennen zu lernen.

Als Pfarrer in Luckau heiratete Gottfried Kunzendorf dann seine „Schwester“, wie die Leute sagten, weil Christel in seiner Familie aufgewachsen war. Der Pfarrer und spätere Magdeburger Bischof Johannes Jaenicke brachte vier Waisenkinder in letzter Stunde aus dem ostpreußischen Bernsteinort Palmnicken heraus, nachdem er dort am Kriegsende 4000 an Hunger und Krankheit gestorbene Einwohner beerdigt hatte, darunter Christels Eltern. In der Bahnhofsmission Rummelsburg übergab er das Mädchen an Kunzendorfs Vater, der es aufzog. Seit 1957 sind Gottfried und Christel Kunzendorf nun schon verheiratet und Eltern zweier Kinder. Ihr Sohn Jörg arbeitet heute als Pfarrer in Nordnorwegen.

Silvesterkind Kunzendorf hat seinen Geburtstag nicht allzu häufig gefeiert, meist riefen den Pfarrer die dienstlichen Pflichten. Morgen zum 75. entflieht er dem Rummel und wird auch für die vielen Freude und Bekannten nicht erreichbar sein. Für ihre Unterstützung und Treue möchte er ihnen trotzdem danken: dem Stadtkonservator Andreas Kalesse, der den Verein „Freunde des Bornstedter Friedhofs“ initiierte, dessen langjährigem Vorsitzenden, den Dokumentarfilmregisseur Siegfried Gebser, Sanssoucis früheren Gartendirektor Harri Günther, den Denkmalpflegern Johanna Neuperdt und Peter Hertling, den Steinbildhauern Rudolf Böhm und Stefan Klappenbach und den Gemeindekirchenräten von Bornstedt und Eiche.

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