zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Jeder nur ein Kreuz

Die Kommunal- und Europawahl war nicht nur für Erstwähler nicht ganz einfach. Auch ein Spitzenkandidat hatte Probleme

Von

Viel ist am Sonntagmorgen am Keplerplatz noch nicht los. In der Tram, die gegen 8.30 Uhr vom Hauptbahnhof kommt, sitzt außer dem Fahrer genau ein Fahrgast. Auf dem Platz selbst sind nur wenige Menschen zu sehen, die zum Bäcker gehen. In der Auslage des Zeitungsverkäufers verkündet eine bunte Zeitung in großen Buchstaben: „Was Sie heute wählen wollen.“ Gemeint ist aber der Berliner Volksentscheid. Die Kunden in der Bäckerei wollen um diese Uhrzeit vor allem Frühstück. Eine Frau, die draußen Kaffee trinkt und raucht, verkündet, sie interessiere sich nicht für Politik.

In den Wahllokalen in der Grundschule am Pappelhain ist um 8.45 Uhr alles vorbereitet, doch ein junger Mann im Rollstuhl kann hier nicht abstimmen – er ist im falschen Wahllokal. „Ihr Wahllokal ist nebenan im Leibniz-Gymnasium“, sagt eine Wahlhelferin. Dann erklärt sie ihm den Weg. Die Wahlhelfer blicken erwartungsvoll auf den Flur, wenn sich dort ein potenzieller Wähler nähert. „Die ersten standen schon vor 8 Uhr an der Tür“, berichtet Wahlvorstand Iwan Chotjewitz. „Aber danach wurde es ruhiger.“

Linke-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg müsste eigentlich wach sein, als er um 9 Uhr das Wahllokal betritt. „Ich bin Frühaufsteher“, sagt er. Dennoch versenkt er den Stimmzettel zur Kommunalwahl beinahe in der Urne für die Europawahl. Nach Frühstück und dem sonntäglichen Spaziergang mit Frau und Sohn startet der Oppositionsführer in seinem Wahllokal am Stern in den Wahltag. Ziel sei natürlich, dass die Linke die stärkste Kraft in Potsdam bleibe, so Scharfenberg. Aber er sei da nicht verbissen. Hauptsache sei, dass Linke und SPD zusammen eine Mehrheit haben. „Dann können wir etwas gestalten“, sagt er. Er habe ein gutes Gefühl. Wichtiger als der Wahlkampf sei die Arbeit zwischen den Wahlen – und da habe die Linke sehr gut abgeschnitten, findet er.

In der Käthe-Kollwitz-Schule in Potsdam-West bildet sich gegen 9.30 Uhr eine kleine Schlange. Das mit dem Anstellen klappt aber noch nicht so ganz, es gibt verärgertes Geknurre. Doch die Wahlhelfer weisen die Leute mit guter Laune zurecht und werden auch nicht müde, die Regeln des Ankreuzens zu erklären. Selbst wenn die Leute es auch beim dritten Mal noch nicht verstanden haben.

Am Magnus-Zeller-Platz wird unterdessen noch fleißig um Stimmern geworben – allerdings in Form von Unterschriften gegen die Garnisonkirche. Die Bürgerinitiative hat hier einen von acht Ständen am Sonntag aufgebaut und wirbt um Unterstützung für ihr Bürgerbegehren. Die Anti-Grünen-Aufkleber der Wählergruppe Die Andere werden bei der Gelegenheit gleich mitverteilt. Deren Stadtverordneter Sandro Szilleweit will nicht zu optimistisch sein. „Vielleicht reicht es ja zu einem vierten Mandat“, sagt er. Er sieht die SPD vorn.

Im Wahllokal Am Schlaatz schaut sich ein Paar den langen Musterwahlzettel an, der an der Tür aufgehängt ist. „Ach, der kandidiert auch?“, sagt sie und zeigt auf den Spitzenkandidaten der SPD. Es ist Oberbürgermeister Jann Jakobs.

Im Wahllokal in der Puschkinallee deutet sich um 11 Uhr eine gute Wahlbeteiligung an. Schon 150 Wähler waren selbst da, 200 Briefwähler kommen noch dazu. Auch eine ältere Frau mit Rollator will unbedingt vor Ort ihre Stimme abgeben. Doch das Wahllokal im verwinkelten Keller der Kita Vielfalt ist nicht barrierefrei. Ihr Wahlrecht kann sie trotzdem ausüben. Die Helfer schaffen Wahlunterlagen, Sichtblende und Urne ans Tageslicht. Fürs nächste Mal empfehlen sie dann doch die Briefwahl. Allen Wählern wird auch die Prozedur erklärt: Bei Kommunal gibt es drei Stimmen zu verteilen. Für Europa hat jeder nur ein Kreuz.

Auch Oberbürgermeister Jann Jakobs will seine Stimme hier abgeben. Doch erst mal muss er warten – alle drei Kabinen sind belegt. Das Wahlergebnis sei immer eine große Überraschung, sagt er, weil es vor Kommunalwahlen keine Umfragen gebe. Ziel sei, das Ergebnis der SPD zu stabilisieren. Vielleicht könne man etwas hinzugewinnen, hofft er. Viel werde sich an den Kräfteverhältnissen in Potsdam aber nicht ändern. Auf jeden Fall wolle er Oberbürgermeister bleiben, so Jakobs. Seine Spitzenkandidatur im Wahlkreis V, zu dem die Waldstadt und der Schlaatz gehören, soll die Potsdamer SPD unterstützen. „Es gibt ja gewisse Schnittmengen zwischen mir und meiner Partei“, sagt er. Aber Stadtverordneter werde er nach der Wahl nicht werden.

Viele Fahrradfahrer rollen gegen 11.30 Uhr über den Schulhof der Hanna-von- Pestalozza-Grundschule. „Wir nutzen das schöne Wetter, um an den See zu fahren“, sagt eine junge Frau. „Die Wahl liegt quasi auf dem Weg.“ Für sie sei vor allem der Ortsbeirat wichtig. Die Kommunalwahl auch. „Natürlich nehme ich auch an der Europawahl teil, aber alleine dafür wäre ich nicht gekommen.“ Ein Mann mit grüner Sonnenbrille sieht das ganz anders. „Ich bin nur wegen der Europawahl hier, alles andere interessiert mich nicht so sehr.“ Er bildet die Ausnahme. Die meisten Wähler kommen vor allem wegen der Ortsbeiratswahl. „Da kennt man die Leute, das betrifft den Ort, das ist einfach viel näher dran“, bestätigt auch eine 20-jährige Wählerin. Auch ein 16-jähriger Erstwähler schleicht schüchtern in das Wahllokal. Glücklich sieht er nicht aus und gibt zu, dass er noch nicht ganz durchsieht.

Mittags gibt es hohen Besuch für die Wahlhelfer im Lokal in der Friedrich-Engels-Straße: Bundeswahlleiter Roderich Egeler und Brandenburgs Landeswahlleiter Bruno Küpper kommen zu Besuch. „Wir möchten uns bei denen bedanken, die die Wahl möglich machen“, sagt Egeler. Zum ersten Mal macht er das diesmal auch im Land Brandenburg. Wahlvorstand Anneliese Hügli hat das in 21 Jahren Wahlhelferleben nicht erlebt und freut sich entsprechend. Egeler und Küpper hoffen, dass die Kommunalwahl auch mehr Wähler zur Europawahl an die Urnen lockt. „Erfahrungsgemäß bringt das zehn Prozent mehr Beteiligung“, sagt Egeler. Potsdams Wahlleiter Matthias Förster sieht die doppelte Wahl vor allem als Herausforderung für die Wahlhelfer. Probleme oder Störungen seien noch nicht berichtet worden. „Es gibt überall genug Wahlhelfer, Stimmzettel und Urnen“, sagt er.

Auch im Kulturladen Fahrland wagt um 13 Uhr eine Erstwählerin den Schritt in das Wahllokal. Die 17-jährige Justine ist ebenfalls am besten über die Ortsbeiratskandidaten informiert. „Europa ist mir einfach noch zu abstrakt, aber das was vor Ort passiert, ist mir schon wichtig“, sagt sie. Im Wahllokal selber möchte man keine Aussagen über die bisherigen Zahlen machen.

Im Wahllokal in der Dortustraße hat sich eine kleine Schlange gebildet, die Wahlhelfer verteilen bereits die Stimmzettel an die Wartenden. „Grau ist Europa, rosa die Stadt“, kommentiert eine Wahlhelferin. Ihr Kollege beginnt zu lachen. „Das könnte ein Buchtitel sein“, sagt er vergnügt.

In der Kita Turmspatzen diskutiert am frühen Nachmittag ein älterer Herr mit dem Wahlhelfer, warum es nötig sei, dass die Namen der Wähler auf der Liste ausgestrichen werden. „Ich finde es nicht so gut, dass festgestellt werden kann, wer wählen war und wer nicht“, sagt er. „Schließlich ist uns das ja freigestellt.“ Letztendlich beruhigt er sich aber und setzt in Ruhe seine Kreuze.

Vor der Ludwig-Renn-Grundschule stehen gegen 15 Uhr zwei junge Mädchen und überlegen, ob sie wählen gehen oder nicht. „Wir haben uns nicht so richtig damit beschäftigt“, geben die beiden 16-Jährigen zu. „Aber es wäre auch schöner, wenn man in der Schule mehr über die Wahlen informiert werden würde.“ Letztendlich trauen sie sich nicht in das Wahllokal. „Beim nächsten Mal“, sagen sie schüchtern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false