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Das Spiel seines Lebens: Junger Potsdamer hat nie aufgegeben

Am Bahnhof Charlottenhof verlor der damals 16-jährige Bernhard Hering beide Beine. Jetzt spielt der frühere Potsdamer Sledge-Eishockey in der deutschen Nationalmannschaft.

Schnell fegt Bernhard Hering übers Eis, lässt den Puck zwischen seinen Kufen spielen, zielt aufs Tor, trifft – und bremst kurz darauf scharf vor der Bande ab. Der frühere Potsdamer klappt das Visier hoch und grinst. Mit dem Helm und den Schutzpolstern unter dem schwarzen Trikot wirkt der 22-Jährige plötzlich massiv, mehr ein Kämpfer als der agile Typ, der er eben noch auf dem Eis war. Er schwitzt, obwohl es kalt ist in der Halle P9 am Berliner Olympiastadion; normales Training eben, für ihn. An diesem Samstagnachmittag trainiert er hier mit seinem Team aus Dresden. Die deutsche Bundesliga im sogenannten Sledge-Eishockey ist so klein, dass sein Dresdner Team eine Spielgemeinschaft mit dem ECC Preussen gebildet hat, deshalb fahren sie öfter mal in die Hauptstadt, zum Spielen.

Sledge ist englisch und bedeutet Schlitten, statt Schlittschuhen schnüren sich die Spieler auf ein schmales Gestell mit zwei Kufen, statt einem langen Schläger benutzen sie zwei kurze. Mit denen kicken sie nicht nur den Puck übers Eis, sie stoßen sich auch damit ab, treiben sich an, steuern sich: nach vorne aufs Tor zu, plötzlich ein schneller Haken, den Gegner austricksen, und dann an die Bande, einen Schluck Wasser trinken. Inzwischen spielen auch Unversehrte Sledge-Eishockey. Erfunden aber wurde der Sport, der seit 1994 Disziplin bei den paralympischen Winterspielen ist, für Menschen ohne Beine. Für Menschen wie Bernhard Hering.

Keiner weiß, was passiert ist

2008 war es, da kam er vom Baumblütenfest in Werder (Havel). Gegen 23.15 Uhr wollte er in Potsdam-West am Bahnhof Charlottenhof aussteigen, der Regionalexpress fuhr wieder an – und Bernhard Hering geriet zwischen den Zug und die Bahnsteigkante. Beide Beine wurden abgetrennt. Wie genau es passiert ist, daran kann er sich nicht erinnern, auch Ärzte und Polizei konnten nicht rekonstruieren, was vorgefallen ist. „Ich habe damals viel Blut verloren, der ganze Tag ist wie aus meinem Gedächtnis verschwunden“, sagt er heute. Ob er damit hadert? Er zuckt mit den Schultern, „ich habe damit abgeschlossen“, sagt er. Klar wüsste er gerne, was eigentlich los war – aber ändern würde das ohnehin nichts mehr. „Mein Leben hat sich durch den Unfall nicht wirklich verändert, ich mache das, was ich vorher auch gemacht habe. Nur der Sport kam dazu, der ist eine echte Bereicherung.“

Bernhard Hering lobt noch heute die Ärzte im Potsdamer „Ernst von Bergmann“-Klinikum, erzählt, wie gut die Chirurgen gearbeitet hätten: „Ich habe gar keine Phantomschmerzen“, sagt er – und das ist tatsächlich ein großes Glück. Denn viele Versehrte leiden – oft noch Jahre nach der Amputation – unter höllischen Schmerzen in dem Körperteil, das eigentlich gar nicht mehr da ist. Manche müssen jahrelang stärkste Schmerzmittel nehmen.

Ein unabhängiges und normales Leben

Und dann sind es ja nicht nur körperliche Folgen, die jemanden quälen können, der mit 16 Jahren beide Beine verliert. Was passiert mit den Freunden, dem ganzen Leben, das man leben wollte? „Ich habe damals schon gemerkt, wer meine wahren Freunde sind, die haben mich sehr unterstützt.“ Andere konnten nicht damit umgehen, haben sich nicht mehr gemeldet. Mit den Frauen läuft es gut, „da kann ich mich nicht beschweren, auch, wenn ich seit einem halben Jahr wieder Single bin“, sagt er und wird ein bisschen rot.

Bernhard Hering hat nach dem Unfall einfach weitergemacht mit seinem Leben. Doch Potsdam, wo er noch zur Schule ging, verlässt er. Mit seiner Mutter ist er nach Leipzig gezogen, „dort lebt auch der Rest der Familie“, und hat dort die zehnte Klasse gemacht. Erst, erzählt er, habe er noch versucht, mit Prothesen zu laufen, das aber war nicht das Wahre. „Dafür sind die Stümpfe definitiv zu kurz.“ An seiner Unabhängigkeit ändert das nichts, er lebt allein, macht gerade seinen Führerschein. Nach der Mittleren Reife zog er nach Dresden, um dort Abitur mit dem Schwerpunkt Informatik zu machen. „Studieren habe ich dann aber lieber gelassen. Ich habe schon damals gemerkt, dass ich nicht so der Lerntyp bin, für das Abi habe ich eigentlich gar nichts gemacht“, sagt er. Also fing er eine Ausbildung zum Informatiker an der TU Dresden an – und kam endlich zum Sport.

Sport ist zur Leidenschaft geworden

Das war etwas, was ihn früher nicht so interessiert hat, mit Eishockey hatte er schon gar keine Erfahrung. „Ich habe nach dem Unfall gemerkt, dass ich dicker und immer dicker wurde und es dann erst mit Sitz-Volleyball versucht“, erzählt er. Das war ihm aber schnell zu öde, zu langsam. Ihn fasziniert die Härte, die Schnelligkeit, die Sledge erfordert, schnell und hart mag er es auch in der Musik. Wenn er auf Konzerte geht, dann ist es Heavy Metal.

Bernhard Hering ist ein hübscher junger Mann, schwarze Haare, markantes Gesicht, durchtrainiert, natürlich. Zweimal die Woche spielt er auf dem Eis, nebenbei versucht er, noch in ein Fitnessstudio zu gehen. Dazu kommen noch die Liga-Spiele, nicht nur der deutschen, auch der tschechischen Liga. „Die TU Dresden lässt mir da viel Freiraum.“

„Dann hat mich ein ehemaliger Mitschüler auf der Straße angesprochen und gefragt, ob ich nicht Lust hätte, es mal mit Sledge zu probieren.“ Weil er so sportlich aussah? Bernhard Hering lacht: „Nee, keene Beene, und damit optimal für den Sport geeignet. Es gibt ja einen extremen Nachwuchsmangel beim Sledge.“

Den beklagt auch Reinhard Tank – „auch, wenn das zynisch klingt“. Viele Kriegsversehrte gibt es nicht mehr, auch die Zahl der von Geburt an beeinträchtigten Menschen gehe zurück, sagt Tank. Er ist der Sprecher von Herings Mannschaft und es regt ihn auf, wie mit den versehrten Sportlern umgegangen wird. „Diese Halle hier etwa, die ist noch nicht alt, als die geplant wurde, saßen Vertreter der Behinderten-Sportverbände mit am Tisch.“ Sie setzten sich dafür ein, die Eishalle doch bitte barrierefrei zu gestalten – „das heißt beim Sledge nicht mehr, als dass es einen ebenen Übergang vom Rand zur Eisfläche und in den Auswechselbereichen transparente Banden gibt“, sagt Tank. Ein kurzer Blick reicht: Die Banden sind allesamt weiß und zwischen dem Gummibelag des Randbereichs und der Eisfläche liegt eine vielleicht drei Zentimeter hohe Schwelle. Damit ist die Halle zwar für das Training, nicht aber für Wettkämpfe geeignet. Die Begründung für die Ablehnung war einfach: Es gibt zu wenige Sledge-Spieler, da lohnt der Aufwand eines barrierefreien Zugangs nicht. Tank ist keiner, der sich in Rage redet, er ist ein Mann mit Stil – doch diese Fakten, findet er, sprechen in ihrer Absurdität für sich.

Keine Angst vor Verletzungen

Auch dass sich das deutsche Nationalteam nur knapp nicht für die Paralympics in Sotschi qualifiziert hat, wurmt ihn. Die Schweden waren einfach besser. „Das war schon eine ziemliche Enttäuschung“, sagt auch Bernhard Hering, aber er nimmt es sportlich. 2018 steht schließlich schon bald vor der Tür und gerade hat er ein Angebot aus der tschechischen Liga bekommen. „Der Sport gibt mir jede Menge Selbstvertrauen – und ich komme viel herum.“ Er war in Japan, in Serbien, im Mai geht es mit der Nationalmannschaft zur WM nach Buffalo in die USA. „Da haben wir die schwerste Gruppe gezogen, wir spielen gegen die USA und Russland, sprich: den Paralympics-Ersten und den Paralympics-Zweiten.“

Angst vor Verletzungen hat Bernhard Hering nicht: „Ich bin ja auch selbst nicht zimperlich, was meine Mitspieler angeht.“ Letztes Jahr hat er einem tschechischen Spieler beim Bandencheck ein Schädeltrauma verpasst, aus Versehen natürlich. Dafür kann er auch einstecken, bei der WM in Japan wurde er mal aufgespießt von einem Schläger, ein stumpfer Schlag in die Seite war das, der ein ziemliches Hämatom hinterließ.

Oder Mitte vergangenen Dezember, bei einem Spiel der tschechischen Liga: Seine Mannschaft hatte eine Menge guter Chancen, die sie aber alle verspielten. Kurz vor Schluss drängte ihn ein gegnerischer Spieler gegen die Bande. Bernhard Hering ging zu Boden, doch das reichte dem anderen nicht – dieser fing an, auf ihn einzuprügeln. Bernhard Hering wehrte sich, schlug zurück, zog sich aber trotzdem einige Stichverletzungen zu. Denn – das ist das Tückische beim Sledge-Eishockey – die Schläger sind unten mit spitzen Spikes besetzt, damit die Spieler sich damit auf dem Eis abstoßen können.

Der Schiedsrichter aber pfiff Hering und nicht den Angreifer aus, es war ein Heimspiel für die Gegner. Aber offenbar hatte Bernhard Hering dennoch Eindruck gemacht: Kurz nach Weihnachten bekam er einen Anruf von eben jenem Team: Der Spieler, der ihn angegriffen hatte, war selbst wegen einer Verletzung ausgefallen, nun wollen sie ihn als Ersatz. „Ob ich das mache, muss ich mir noch überlegen. Mal schauen, was sie bezahlen“, sagt Bernhard Hering.

Er grinst, und stößt sich wieder von der Bande ab – zurück ins Spiel, zurück aufs Eis, sein Element.

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