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Landeshauptstadt: „Man muss sie fürchten und lieben“

Annette Flade wird morgen als Ausländerseelsorgerin der Kirche verabschiedet

Annette Flade wird morgen als Ausländerseelsorgerin der Kirche verabschiedet Von Ulrike Strube „Ich kann mir nicht vorstellen wie das ist, wenn die Papierstapel alle nicht mehr da sind“, sagt Annette Flade. In ihrer Wohnung haben sich haufenweise Akten und Briefe angesammelt. Sie liegen auf der Flurgarderobe, dem Küchenbüfett und dem zierlichen Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer. In knapp drei Wochen wird die Ausländerseelsorgerin des evangelischen Kirchenkreises Potsdam aus ihrem Amt scheiden, bereits morgen findet in der Friedrichskirche der Abschiedsgottesdienst für sie statt. Die Unterlagen wird sie dann ihrer Nachfolgerin Monique Tinney übergeben. Der Gedanke erleichtert sie, doch Realität geworden ist er für Annette Flade noch nicht. Die nach außen manchmal hart wirkende Theologin nimmt im Korbsessel in ihrem Arbeitszimmer Platz. Hinter ihr steht ein Regal mit Büchern über den Maler Emil Nolde, Romanen von Isabell Allende und Brigitte Reimann und auch einer kleinen Bibelsammlung. Es brennen Kerzen und der Duft von Kräutertee strömt aus einer Tonkanne. Annette Flade spricht ruhig, jedes Wort ist wohl gewählt. Das Abschiednehmen fällt ihr schwer. Von vielen Schicksalen und Lebensgeschichten hat sie erfahren. Nähe, Selbstverständlichkeit und Intensität im Umgang mit den Menschen sind gewachsen. In achteinhalb Jahren lernte sie vieles tragen und auszuhalten. Bereiteten ihr anfänglich die Berichte der Flüchtlinge eine gewisse Ohnmacht, machten sie bald die bürokratischen Hürden wütend, lösten Beklemmung, manchmal auch Resignation aus. Dass bei Entscheidungen der Behörden oft das Einzelschicksal keine Rolle spiele, ist für die impulsive Frau unverständlich. Gern würde sie jeden Menschen, der über das Schicksal eines anderen zu entscheiden hat, mit dessen Lebenssituation konfrontieren. Ihre Tätigkeit als Seelsorgerin hat Annette Flade immer als eine politische verstanden. So war es für sie selbstverständlich, auf kommunaler Ebene und in Arbeitskreisen für die Bedürfnisse der Asylsuchenden zu streiten. Schon nach dem politischen Umbruch beschäftigte sie das Thema: Es kamen viele Flüchtlinge und Asylsuchende in die Landeshauptstadt. In ehemaligen Heimen und Krankenhäusern erhielten sie zunächst Obdach. Damals suchten Potsdamer den Kontakt zu den Ankommenden, boten Hilfe und Unterstützung an. Unter ihnen war auch Annette Flade, die damals bei der Gossner-Mission arbeitete. Als erster Kirchenkreis der Landeskirche setzten die Potsdamer mit der anfangs ehrenamtlichen Ausländerseelsorge dann neue Akzente kirchlicher Arbeit. Ab Mitte der 90er Jahre wurde der Bereich durch eine halbe Stelle gesichert, die Annette Flade 1996 antrat. Aufgewachsen in einer Wittenberger Bäckermeisterfamilie träumte die 1950 Geborene in ihrer Jugend davon, Tierärztin zu werden. Zum Konfirmandenunterricht ging sie nur der Oma zu Liebe. Wider Erwarten fand die Schülerin dort etwas, dass sie nicht mehr loslassen sollte. Nach dem Abitur mit Berufsausbildung zum Rinderzüchter stellte das Leben seine Weichen. Aus gesundheitlichen Gründen suchte die Abiturientin neue berufliche Orientierung. „Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich, Theologie zu studieren“, erzählt Annette Flade. Sie ging an die Humboldt-Universität, eine kirchliche Ausbildungsstätte kam nicht in Frage, weil sie die DDR-Normalität auch während des Studiums erleben wollte. In Berlin lernte sie ihren Mann Stefan kennen. Nach dem Vikariat begannen beide ihren kirchlichen Dienst in der Prignitz, später wechselten sie mit ihren drei Kindern nach Babelsberg. Dann kam die Wende. Alles war neu. Annette Flade, die sich zu DDR-Zeiten in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, begann die Gegenwart mitzugestalten. Waren viele froh, dass es nun endlich Bananen in Hülle und Fülle gab, hängte sich die Theologin ein Schild um und forderte: „Kauft keine Bananen aus Südafrika“, weil damit die Apartheid unterstützt wird. Aus dieser Initiative mehrerer Frauen entwickelte sich der „Solidario“, ein Eine-Welt-Projekt, bei dem es noch heute fair gehandelte Produkte wie Kaffee und Schokolade zu kaufen gibt und über die Dritte Welt informiert wird. Als Ausländerseelsorgerin kämpfte Annette Flade hartnäckig für die ihr anvertrauten Menschen. Und das manchmal bis an ihre eigenen Grenzen, egal ob es um die Abschaffung des Sachleistungsprinzips, die Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation der Flüchtlinge oder das Einzelschicksal ging. Oft war es ihrer Mimik und Körpersprache anzusehen, wie nah ihr negative Entscheidungen gingen. Sie lebte ihren Auftrag. Durch ihre Tätigkeit als Ausländerseelsorgerin ist sie sensibler für globale Zusammenhänge geworden, für Fluchtursachen und Verarmung ganzer Kontinente. „Wir müssen Dinge verändern“, sagt sie. „Menschen sollen nicht mehr ihre Heimat aus Not verlassen müssen.“ Annette Flade trage einiges von einer „Überzeugungstäterin“ in sich, beschrieb Oswald Schönherr, Pfarrer und Begleiter seit Vikariatszeit, seine Kollegin: „Man muss sie fürchten und lieben!“ Ihre Entschlossenheit erzeugte in manchen so etwas wie Schuldgefühle, gar Abwehr. Nun aber sind die Tage erst einmal gezählt. Was danach kommt, ist ungewiss. Annette Flades Bewerbungen für Auslandspfarrstellen oder Projekte des Zivilen Friedensdienstes laufen noch. „Aber es ist Zeit, etwas Neues anzufangen“, sagt sie. Ob sie Kontakt zu den ihr anvertrauten Menschen halten werde, wisse sie nicht, sagt die Pastorin zögerlich. „Doch, eine Zäsur muss es geben.“ Aber bestimmt wird es komisch sein, nicht mehr allwöchentlich wie seit Jahren die ihr ans Herz gewachsene Frau aus Kamerun oder die bosnische Oma zu besuchen. So manchen wird sie sicherlich vermissen, beispielsweise den geflüchteten jungen Mann, der seit Jahren darum ringt, seiner Mutter von seiner Homosexualität zu erzählen – „In seiner Heimat ist das strafbar und seine Mutter würde sehr unglücklich werden.“ Auch das gute Essen wird ihr fehlen. Seit Jahren ernährt sich Annette Flade von afghanischem Reis, bosnischem Börek oder auch irakischen Nusskeksen. „Deutsches Essen, was ist das?“, scherzt sie. Der Abschiedsgottesdienst für Annette Flade findet morgen um 14 Uhr in der Friedrichskirche am Weberplatz statt. Im Anschluss wird zu einer Mahnwache der Gesellschaft für bedrohte Völker unter dem Motto „Ein Licht für Westsudan - Ein Licht für Darfur“ geladen. Dabei soll den mehr als 1,6 Millionen Menschen gedacht werden, die sich in dem afrikanischen Land auf der Flucht befinden oder gewaltsam getötet wurden.

Ulrike Strube

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