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Kein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten: Sergej Lochthofen, Rudolf Seiters, Lothar de Maiziére und Hans-Christian Maaß im Helmholtz-Gymnasium.

© Andreas Klaer

Von Guido Berg: Mehr Fragen als Antworten

20 Jahre Deutsche Einheit: Rudolf Seiters und Lothar de Maizière in der Aula des Helmholtz-Gymnasiums

Wie aus dem Lehrbuch! Das ist beim Fußball ein Lob, wenn etwa ein flinkes Doppelpassspiel zum Torerfolg führt. Aber Geschichte und politische Bildung aus dem Lehrbuch? Zwar bleibt Lektüre für Schüler unumgänglich. Und doch ist es anschaulicher, wenn Akteure der Geschichte noch selbst berichten können. Wer hätte gedacht, dass Lothar de Maizière (CDU), erster und letzter frei gewählter Ministerpräsident der DDR, die Politikerkompetenz in der heißen Phase der deutschen Wiedervereinigung 1990 so kommentiert: „Es gab zwar ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, aber kein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten.“ De Maizière kam am Freitag in die Aula des Helmholtz-Gymnasiums, um sich den Fragen der Schüler einer 9. Klasse zu stellen, die gerade einen Kurs in politischer Bildung belegen, in dem die deutsche Einheit behandelt wird. Mit de Maizière kamen der Ex-Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU), der ehemalige Helmholtz-Schüler, DDR-Flüchtling, Ministerialbeamte und heutiger Repräsentant der Volkswagen AG in der Bundeshauptstadt, Hans-Christian Maaß, sowie der im nordrussischen Workuta geborene ehemalige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Sergej Lochthofen.

In ihren Eingangsdarlegungen berichteten die Zeitzeugen über besonderen Erlebnisse in der Wendezeit. Seiters erlebte seinen erhabensten Moment bereits am 30. September 1989, als er neben Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft stand. „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihre Ausreise “ Der Rest ist Geschichte mit Gänsehaut, für 5000 DDR-Bürger endete jubelnd die lange Zeit des Wartens auf eine Ausreise in den Westen Deutschlands. Lochthofen schmeichelte Seiters, in dem er sagte, Seiters habe die Nächte durchgearbeitet, um das Wunder von Prag zu vollbringen – auch wenn Genscher dann den berühmte Balkon-Satz sprach. Dramatisch war aus Sicht Seiters auch die Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl vor der Dresdner Frauenkirchen-Ruine am 19. Dezember 1989, als die DDR-Führung Kohl allein mit den DDR-Bürgern ließ und diese ihm zujubelten. „Von da an haben wir fest an die Chance der Wiedervereinigung geglaubt“, so Seiters.

De Maiziére erinnerte sich, dass vor seiner Amtseinführung noch die DDR-Verfassung geändert werden musste. Schließlich habe er nicht auf „Sozialismus“ und „unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion“ vereidigt werden wollen. Sein bewegendster Moment, so der Ex-DDR- Premier, sei die Unterzeichnung der Zwei-plus-Vierverträge am 12. September 1990 in Moskau gewesen. Ein Jahr zuvor war er noch einfacher Rechtsanwalt: „Wenn ich daran denke, wird mir heute noch manchmal schwindelig“, sagte de Maizière.

Dahingestellt, ob die gegenseitige Schulterklopferei der Einheitsveteranen sie dazu anregte – die Helmholtz-Schüler stellten Fragen mit kritischem Ansatz. So wollte Lena aus der 9e wissen, ob die Transferzahlungen aus dem Westen die DDR nicht eher stabilisiert hätten. Gemeint sind Gefangenfreikäufe oder die Milliarden-Kredite von Franz Josef Strauß. Seiters erklärte darauf lediglich, die Bundesregierung habe so viele eingesperrte DDR-Bürger wie möglich freikaufen wollen. Auch seien mit der DDR Verträge abgeschlossen worden, um Begegnungsmöglichkeiten zu erhöhen.

Ex-Chefredakteur Lochthofen musste sich die Frage gefallen lassen, warum er als Redakteur an einer SED-Zeitung nach der Wende Chefredakteur sein durfte. „Eine interessante Frage“, so der Kommentar von Maaß, der vorab erklärte, dass der Geruch in der Helmholtz-Aula noch so sei wie vor 42 Jahren. De Maiziére erklärte, sie hätten sich ja „kein neues Volk wählen können“. 2,4 Millionen DDR-Bürger seien in der SED gewesen. Sie hätten immer unterschieden zwischen „vernünftigen Genossen“ und „150-Prozentigen“. De Maiziére: „Letztere konnten wir nicht weiter beschäftigen.“ Lochthofen, damals 36 Jahre alt, verwies darauf, er sei basisdemokratisch von seinen Kollegen zum Chefredakteur gewählt worden. Zumal die Leser zu 95 Prozent auch die Gleichen blieben. Die Wende, so der Journalist, sei „ein historischer Prozess gewesen, in dem sich viele einordneten“. Spannend ist nicht nur Lochthofens Berufung zum Chefredakteur 1990, sondern auch seine Abberufung durch die westdeutsche WAZ-Mediengruppe Ende 2009, bei der auch seine Frau, stellvertretende Chefredakteurin, entlassen wurde. Lochthofens damaliger Kommentar: Das sei „Sippenhaft wie bei den Nazis und unter Stalin“.

Die abschließende Schülerfrage nach der Rolle der Treuhandanstalt wurde gleichsam als Frage nach der Deindustrialisierung Ostdeutschlands und nach der Bilanz der Deutschen Einheit verstanden. Seiters wunderte sich, wie es der DDR-Führung gelingen konnte, der UNO weis zu machen, die DDR sei die zehntstärkste Volkswirtschaft der Erde. De Maiziére sagte, die DDR-Betriebe hätten nur 40 Prozent der Produktivität der westdeutschen Wirtschaft gehabt. Natürlich habe es auch Westfirmen gegeben, die Ostbetriebe aufkauften, um Konkurrenten auszuschalten oder „Liquidität abzuziehen“. Der Privatisierungsprozess in der DDR sei im Vergleich zur ehemaligen Sowjetunion, wo sich wenige Oligarchen die Werte aneigneten, jedoch gut verlaufen. Dort habe sich die Aussage von Karl Marx bewahrheitet, wonach ursprüngliche Akkumulation von Kapital immer kriminell verläuft.

Das Video wurde uns freundlicherweise von PotsdamTV zur Verfügung gestellt.

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