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Landeshauptstadt: Mit offenen Augen

Künstlerin werden heißt Lebenskünstlerin sein: Der Weg Kathrin Ollroges von der Facharbeiterin für Schreibtechnik zur anerkannten Fotografin und Galeristin, ein individuelles Nachwende-Leben, in dem Potsdam sicher keine Endstation ist

Kathrin Ollroge ist wieder da. Wieder in Potsdam. Sie hat, wie sie es sagt, seit der Wende „ein individuelles Leben“ geführt. Mit dem unbedingten Anspruch auf Individualität ist nach dem Mauerfall 1989 nichts naheliegender, als die Ferne zu suchen. Die heute 39-Jährige verlässt Potsdam als Facharbeiterin für Schreibtechnik, die offizielle Bezeichnung für Sekretärin in der DDR. Zurückgekehrt ist sie nun als studierte und anerkannte Kunst-Fotografin und Ausstellungsmacherin.

Mit treffsicheren Argumenten wurde der gebürtigen Potsdamerin, die in Werder aufwuchs, das Weggehen leicht gemacht. Nach einem einjährigen Intermezzo in Berlin zieht sie Anfang der 90er Jahre nach Potsdam, um für einen Immobilien-Makler zu arbeiten, eine gerade in den Wendejahren wenig geschätzte Berufsgruppe. Ihr Dienstwagen hat ein Krefelder Kennzeichen. Als sie gerade einsteigen will, hört sie einen Knall und verspürt einen stechenden Schmerz im Rücken. Sie dreht sich um und sieht hinter einem Dachbodenfenster eine Gestalt entwischen. Zuerst denkt sie, jemand habe bloß mit einem Katapult eine Kastanie auf sie abgefeuert. Sie fährt los. Mit einer Hand lenkt sie das Auto, mit der anderen zieht sie sich ein Projektil aus dem Rücken. „Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mich daran erinnere“, sagt Kathrin Ollroge heute. Es ist für sie kein einschneidenes Erlebnis. Bei der Polizei wartet sie, bis die Wachhabenden ihren Kaffee ausgetrunken und ihren Mohnkuchen aufgegessen haben. Dann hat sie noch die Szene in Erinnerung, wie Polizisten mit ihren großen Händen und einem Lineal versuchen, dass Kaliber des Geschosses festzustellen: Vier Millimeter. Der Schütze wird nie gefasst.

„Da hasst du ja einen Vorgeschmack auf Amerika“, lästern die Freunde. Kathrin Ollroge geht kurze Zeit später als Aupair-Mädchen für ein Jahr in die USA, das Land, in dem vielen Waffen tragen als Menschenrecht gilt. Von den 100 Dollar, die sie bei einer netten Familie in Minnesota verdient, legt sie etwas zurück für eine sechswöchige Eisenbahn-Tour durch die Staaten, die sie mit einer Aupair-Freundin aus England unternimmt. Sie kultiviert ihr Vermögen, mit wenigem auszukommen und Prioritäten zu setzen: Manchmal isst sie gar nichts, manchmal „irgendwelche Brötchen“. Einmal muss sie sich entscheiden: 40 Dollar hat sie in der Tasche, 40 Dollar kostet die Karte für die Band „Violent Femmes“. Das Konzert war toll, erinnert sie sich. Die beiden jungen Frauen haben ein Amtrak-Ticket, aber nicht das Geld für Hotels. Im Bahnhof von Dallas (Texas) dürfen sie zwar in der Nacht auf Bänken sitzen, aber nicht die Augen schließen, worauf eine Polizistin streng achtet. Geschossen wird auf sie in den USA nicht ein einziges Mal.

Im Frühjahr 1994 besucht sie für einen Monat ihre Aupair-Freundin in England. Wenig später fährt sie mit der nicht mehr existenten Potsdamer Band „Diminished“ im gelben VW-Bus wieder auf die Insel. In Leeds verliebt sich in ein Mitglied der Band „Baby Harp Seal“ und Anfang 2005 ist es dann soweit: Sie packt ihre Sachen – die Bücher, den Staubsauger – in eine Kiste und steigt in einen Bus nach England. Mehr als zehn Jahre bleibt sie, zunächst noch ohne offizielle Arbeitserlaubnis. Sie muss „schreckliche Jobs“ annehmen, putzen, gärtnern, kellnern, an Besoffene Fischhäppchen verkaufen in Kneipen „und mein Boss hat draußen auf mich gewartet, dass ich mit dem ganzen Geld rauskomme“. Sie hat Heimweh und verdient oft nicht mehr 35 Pfund die Woche, soviel wie die Miete ihres WG-Zimmers kostet. „Es war sehr hart“, sagt sie.

Sie besucht das College, macht 1997 ihr Kunstabitur und merkt, Fotografie könnte ihre Passion sein. Dann studiert sie in Bradford, macht nach drei Jahren ihren Bachelor of Arts (Photografie). Um ihr Studium zu finanzieren, jobbt sie in der Telefonzentrale eines Autoverkäufers. Ihre erste Nikon lässt ein Freund auf den Betonboden fallen. Als ihre Oma beerdigt wird, verbietet ihr der Autoverkäufer, nach Deutschland zu fliegen.

Ihr reicht es, sie macht sich selbstständig. Mit dem Trabant, den ihr Vater mit der Fähre nach England bringt, fährt sie von Haus zu Haus und bietet ihre Fotografien an. Das Zweitakt-Vehikel erhöht ihren Bekanntheitsgrad in Leeds enorm. Viele Leute winken ihr zu, kaum jemand kauft ihre Fotos. Einmal schickt ihr Vater einen Anlasser mit der Post nach Leeds; der Postbote ist nicht amüsiert. 2003 wird der Trabi geklaut. Sie fährt dann den gelben VW-Bus von „Diminished“, aus dem heraus sie während der Fahrt bei Regen Fotos schießt. Reflexionen, Spiegelungen, Farben, das sind die Stichworte, mit der sie ihre Arbeiten beschreibt.

Sie fängt an, ihre Bilder auf einem Markt zu verkaufen, neben Waren wie Trainingsanzügen und Handtüchern. Es geht besser, vor Weihnachten muss sie jemand beschäftigen, der ihr beim Entwickeln der Filme hilft. „Ich konnte überleben“, sagt sie „und ich hatte immer Fotopapier.“ Nach zwei Jahren mietet sie schräg gegenüber auf dem Markt einen festen Laden und eröffnet Anfang 2004 die „Gallery 22“ – in Anlehnung an die „22“ in der Potsdamer Gutenbergstraße, eine Hausbesetzerkneipe nach der Wendezeit. Sie hat die einzige Foto-Galerie in Leeds, eine Stadt mit einer Millionen Einwohner. 3000 Pfund braucht sie, um die Miete und den Angestellten zu bezahlen. „Das ist schon sehr viel für eine kleine Person.“ Doch sie verkauft gut und hofft auf eine Absatzsteigerung in den Monaten vor Weihnachten. Doch als es soweit ist, machen die Kunststudenten der Stadt direkt vor ihrer etablierten Galerie Stände auf und verkaufen Fotos zu Dumping-Preisen. Um aus dem Mietvertrag herauszukommen, meldet sie Insolvenz an. Am 23. Dezember 2004, ein Tag vor Heiligabend, bekommt sie den Tipp, dass der Gerichtsvollzieher auf den Weg zu ihr ist. Viele Bekannte tragen ihre Bilder als Kunden getarnt aus der Galerie und deponieren sie in dem VW-Bus, den sie im Dunklen unter einer Brücke geparkt hat. Sie retten so ihr Werk vor Beschlagnahme. Der Bus wird kurze Zeit darauf gestohlen, die Diebe aber kommen mit der Rechtsschaltung nicht klar und kollidieren nach 300 Metern mit einem Doppeldeckerbus. Zeugen berichten, eine Person im Trainingsanzug und schwarzen kurzen Haaren sei vom Unfallort geflohen. Kathrin Ollroge hat kurze schwarze Haare, die Polizei sucht in ihrer Wohnung nach dem Trainingsanzug und glaubt, sie wolle die Versicherung betrügen. Englands Reiz, den sie so liebt, beginnt zu verblassen.

Nach zwei Jahren des Pendelns zwischen Potsdam und Leeds, nach einer Foto-Reise mit der transsibirischen Eisenbahn, ist Kathrin Ollroge nun wieder Potsdamerin. In der Lindenstraße 63 will sie ab Februar eigene Fotografien zeigen, natürlich in der „Gallery 22“. Auch ist sie mitbeteiligt an der Organisationen der Ausstellung „Posthume“, die Bilder des Fotografen Michaël Bourdaud“hui zeigt. Sie ist noch bis Ende Februar 2008 im Cafe Black Flowers in der Geschwister-Scholl- Straße 97 zu sehen. „Potsdam ist keine Endstation“ sagt sie. Aber man könne ja mehrere Stationen haben. Sie kann das.

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