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Keimzeit-Akustik Quintett in Potsdam: Mut zur Müdigkeit

Das Keimzeit-Akustik Quintett und ihr neues Album „Albertine“ auf dem Pfingstberg.

Sie hatten es so richtig schön idyllisch: eine Bühne unter Bäumen, vis-à-vis dem majestätischen Schloss Belvedere auf dem Pfingstberg, eine lange und laue Sommernacht, in der die Schwalben im Tiefflug über die Köpfe der Zuschauer fegten und das Konzert der Vögel in den Bäumen fast noch lauter war. Dieser Abend war wie die Postkarte eines Potsdam-Besuchs, fast schon eine Seite im Reiseführer: Schlossbesichtigung, und am Abend noch ein feines Open-Air-Konzert einer Potsdamer Band.

Und kaum eine andere Band steht so für Potsdam wie Keimzeit, die bereits Anfang der 80er-Jahre im Umland zu spielen begann und um die Wendezeit Stammgast in der Stadt war. Etwas Rebellisches haftete der Band damals schon an, als Bluesrock mit deutschen Texten verknüpft wurde – und zu viel Lyrik auch schon mal zum kurzzeitigen Entzug der Spielerlaubnis führte. Richtig bergauf ging es aber 1993, als das Album „Bunte Scherben“ erschien und zum Bestseller wurde. Darauf war dann auch der Hit, auf den die Band immer wieder reduziert wird: „Kling Klang“. Der Song, den man auch mitsingen kann, wenn man Keimzeit nicht kennt, sollte später auch der letzte des Abends sein. Zu der Zeit, als Keimzeit sich erstmals in die lokalen Herzen spielte, war das Belvedere selbst freilich noch eine Ruine – in der es aber auch schon Konzerte gab. Ganz legal waren diese Ruinenkonzerte nicht, aber Potsdam war ja auch noch weit entfernt von dieser pingeligen preußischen Regulierungswut, für die es heute gleichsam belächelt und verachtet wird. Genau da zeichnet sich eine Parallele zwischen Band und Ort ab, der am Samstag, knapp 30 Jahre später, wieder gehuldigt wird. Doch Keimzeit scheint müde geworden zu sein: Das Konzert, das im Rahmen der „Havelländischen Musikfestspiele“ stattfand, war mit 32 Euro an der Abendkasse nicht gerade ein Schnäppchen, dennoch fanden sich gut 500 Besucher ein, die in fein geordneten Reihen auf Klappstühlen vor der Bühne saßen und nach jedem Song höflich und genau gleichlang sanft applaudierten. Dabei fiel kaum auf, dass gar nicht Keimzeit selbst auf der Bühne standen, sondern nur eine Coverversion ihrer selbst, als Keimzeit Akustik Quintett: Saxofon und Trompete wurden herausradiert, stattdessen spielte Gabriele Kienast Violine dazu. Ganz neu ist das nicht, das Quintett spielt schon ein paar Jahre, 2013 etwa in der Reithalle; aber es hatte diesmal das neue Album „Albertine“ dabei, das im vergangenen November in Sturm und Regen auf Malta aufgenommen wurde – und sich inhaltlich an Marcel Proust abgearbeitet hat. Der Titel der literarischen Vorlage „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ könnte nicht treffender gewählt worden sein.

Ob diese leichtfüßig interpretierte lyrische Schwere ausgerechnet Proust dahinter erkennen lässt, sei jedoch dahingestellt – mit Songs wie „Picassos Tauben“ über einen alternden Torero und mit Textzeilen wie „Zu alt um jung zu sterben“ ließ sich eine gewisse Müdigkeit jedoch kaum noch kaschieren. Vielleicht hat die Band um Sänger Norbert Leisegang diese Sehnsucht nach dem Vergangenen, das würde zumindest diese unverhohlene Tragik erklären – und diese Fixierung auf Proust. Denn als im weitaus lebendigeren zweiten Teil die Klassiker, die fast schon als Oldies durchgehen, gespielt wurden, verblasste die bleierne Melancholie wieder, mit Songs wie „Irrenhaus“, „Maggie“, „Der Hofnarr“ und „Amsterdam“. Da durfte auch wieder zaghaft im Takt geklatscht werden, denn da war sie wieder, die verlorene Zeit. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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