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Landeshauptstadt: „Plötzlich steht Geschichte auf“

Wie ein Potsdamer Architekt Spuren vergangener Zeiten sucht – und findet

Wie ein Potsdamer Architekt Spuren vergangener Zeiten sucht – und findet Von Andrea Röder Dieser Mann hat eine ungewöhnliche Art, an die Restaurierung alter, verfallener Häuser heranzugehen: Anstatt die feuchten, verschimmelten Wände kurzerhand in Schutt zu verwandeln und diesen mitsamt dem morschen, unbrauchbaren Gebälk in einen Container zu verbannen, begibt sich Kurt Föhr bei der Entkernung auf eine Reise in die Vergangenheit. „Für mich ist es wichtig, vor einem Umbau mit dem Haus in Kontakt zu treten“, sagt der Architekt. Der Auftrag für den Umbau der Kurfürstenstraße 16 ist für ihn ein wahrer Glücksfall. Das Gebäude, noch bis zirka 1985 bewohnt und seit 1735 nur unwesentlich verändert, barg neben barocken Treppen, Türen, Fenstern und Beschlägen auch noch die alten Wandanstriche, die mit Hilfe von Restauratoren unter vielen späteren Farbgebungen teilweise wieder ans Tageslicht geholt werden konnten. Bevor mit den Bauarbeiten begonnen wurde, nahm sich Föhr erst einmal Zeit. Zeit, um jeden Quadratmeter behutsam in Augenschein zu nehmen – auf der Suche nach der Geschichte des Hauses und getrieben von dem Gedanken, möglichst viel Originalsubstanz erhalten zu können. „Das Alte gehört schließlich zum Haus, wie die Biographie zum Menschen“, meint der 56-Jährige, der ebenso leidenschaftlicher Denkmalschützer wie Soziohistoriker zu sein scheint. „Wenn ich eine durch tausendfache Benutzung abgegriffene Türklinke oder ausgetretene Treppenstufen sehe, versuche ich etwas von dem Leben und den Schicksalen der Menschen zu erahnen, die diese Spuren in guten und schweren Zeiten hinterlassen haben.“ Während seiner „Kontaktaufnahmen“ stieß er in diesem Haus auf eine ihm bis dahin unbekannte „Schall-Dämmtechnik“ früherer Bewohner. „Sie glauben gar nicht, was ich alles in Decken, Fußböden und Verschlägen entdeckt habe“, sagt er und ist noch immer fasziniert von seinen kleinen und großen „Ausgrabungsfunden“. Neben zahlreichen Scherben und allerlei Unrat förderte er aus Balkenzwischenräumen kunstvolle Flaschen, Tongeschirr, Bücher, Holzspielzeug, originale Kacheln, Werkzeuge, Münzen, Schuhe, selbst Kinderlätzchen zu Tage. „Früher haben die Leute alles Mögliche in den Balkenfächer entsorgt“, erzählt der Architekt und kennt die pragmatischen Beweggründe, die hinter dieser Methode steckten: Bei der Erbauung der Holländerhäuser im 18. Jahrhundert hatte man die rund zwanzig Zentimeter hohen Balkenfächer nicht immer ausreichend mit einer Schüttung oder Spreu ausgefüllt, die den Lärm gemindert hätte. Deshalb behalfen sich die Hausbewohner zusätzlich mit eigenen „Dämmstoffen“. Doch nicht immer war Lärm ein Anlass, die Dielen herauszunehmen und darunter etwas zu verwahren, wie ein Fund in der Kurfürstenstraße 16 zeigte. Unter einer alten Matratze, sorgfältig in Ölpapier eingewickelt, fand Kurt Föhr Zeitungsschnipsel aus dem Jahre 1901 und das Bildnis einer proper gekleideten Dame, erstellt von dem Potsdamer „Atelier für Photographie Goetschke“. Ein direkter Zusammenhang zwischen den Gegenständen ist auf den ersten Blick nicht auszumachen, aber „vielleicht hat das ein junger Mann hier versteckt, der sich zu dieser Dame hingezogen fühlte“, vermutet der Architekt. Die außergewöhnlichste Entdeckung hat Kurt Föhr jedoch bei der Bauaufnahme vor dem Umbau der Hebbelstraße 46 gemacht: In dem damals stark verfallenen Haus fand er in einem zugenagelten Treppenverschlag unter dicken Staubschichten eine Schublade mit Werkzeugen, ein halbes Dutzend verschnürte Kartons und zwei Koffer, über deren Inhaber ein daran befestigtes Namensschild Auskunft gab: „Eigentum von Obergefr. Eberhard Holtz. Feldpost Nr. L00297“. Über ein halbes Jahrhundert haben die Sachen dort unentdeckt gelagert, was den Architekten stark wundert, denn „früher wurde so ziemlich alles aus den leer stehenden Holländerhäusern entwendet, was irgendeinen Wert hatte – Öfen, Türgriffe, Beschläge, sogar Treppengeländer“. Als Kurt Föhr behutsam die Knoten der Schnüre gelöst und die Koffer und Kartons geöffnet hat, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl: „Mit so einem Fund steht plötzlich Geschichte auf.“ Und zwar nicht nur die des Obergefreiten Holtz, sondern auch die Erinnerung an seinen eigenen Vater, der als Frontsoldat 1945 verwundet heimgekehrt war und viele seiner schrecklichen Kriegserfahrungen später immer wieder erzählen musste. „Die Gefühle sind aber auch deshalb ambivalent, weil einen solch ein Fund natürlich fasziniert, man andererseits aber auch eine Scheu hat, einfach in die Privatshäre eines Menschen einzudringen.“ Es handelt sich um den Nachlass eines Soldaten, der als Eberhard August Wilhelm Holtz am 22. Januar 1906 geboren und offensichtlich nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war. Bald nach Kriegsausbruch war der junge Mann in einer Versorgungseinheit in Norwegen stationiert, wie Dokumente belegen. Holtz muss ein leidenschaftlicher Postkartensammler gewesen sein, hunderte Motive – zumeist Propagandabilder des NS-Regimes, aber auch Landschafts- und Aktaufnahmen – finden sich in den Kisten. Daneben liegen zahlreiche Bücher und Propagandaschriften über das Dritte Reich. Etliche handeln von der Stellung Deutschlands in der Welt, dem Judentum oder der nationalsozialistischen Sippenlehre. Letztere schien für den Potsdamer Soldaten von äußerst großer Bedeutung gewesen zu sein. Ein umfassender Briefwechsel mit dem Reichssippenamt zeigt, wie groß die Not sein konnte, seinen Ariernachweis zu erbringen. Neben der Propagandaliteratur finden sich in den Koffern und Kartons zahlreiche andere Bücher über Skandinavien, ferne Länder, Filme oder Elektrotechnik, selbst gezeichnete Bilder und akribisch geplättete Konservenetiketten. „Er hatte wahrscheinlich nicht viel zu tun gehabt in seiner Einheit“, vermutet Kurt Föhr, während seine Hände weiter durch die modrig riechenden Sachen gleiten. Unter diversen Fotografien stößt er auf die zwanzig Zentimeter lange, metallene Hülse eines Artilleriegeschosses. Ein makabres „Mitbringsel“ von der Front. In einer anderen Kiste entdeckt der Architekt eine Schachtel mit norwegischer Weihnachtsdekoration, die Holtz offensichtlich nach Hause zu seinem Bruder Helmuth in die Hebbelstraße 46 geschickt hatte. Eine durchaus übliche Geste, wie es schien. Denn in Briefen liest Föhr später, wie Eberhard Holtz von seiner Verwandtschaft gebeten worden war, Toilettenseife, Kakao und Kaffee von der Front zu schicken. „Dabei dachte ich immer, die Familien haben den Soldaten etwas geschickt, und nicht umgekehrt“, ist Föhr einmal mehr verwundert. So könnte er stunden- oder gar tagelang im Nachlass des Obergefreiten Holtz stöbern. Fasziniert, erschrocken, einfach gefesselt von den geschichtsträchtigen Habseligkeiten, die in die Koffer und Kisten gepfercht sind. Laut Gesetz gehört der Fund dem Hauseigentümer Harald Dieckmann, einem Freund von Kurt Föhr. Aus Gesprächen mit ihm weiß der Architekt, dass Dieckmann die Sachen nicht wegwerfen will, allerdings vermeiden möchte, dass sie in „falsche Hände“ geraten. Wahrscheinlich werden sie demnächst einem Archiv übereignet, denn bislang wurden keine noch lebenden Verwandten von Eberhard Holtz ausfindig gemacht, denen der Nachlass übergeben werden könnte. In der Mittelstraße 23, Kurt Föhrs aktuellem Projekt, ist die „Kontaktaufnahme“ zu seinem Leidwesen in gewohnter Weise nicht mehr möglich. In dem Gebäude waren in einer „Radikalsanierung“ in den achtziger Jahren alle denkmalschutzwürdigen Bestandteile verloren gegangen, so dass Föhr heute in langen Beratungsgesprächen mit dem Denkmalamt behutsam eine „Heilung“ des Hauses vornehmen möchte. Das ist allerdings nur in bescheidenem Umfange möglich, selbst wenn alte Grundrisse wieder hergestellt, originale Türen aus dem Fundus des Denkmalamtes wieder eingebaut und die barocken und gründerzeitlichen Treppen nachgebaut werden. Angesichts dieser Herausforderung meint Kurt Föhr, „wenn es uns gelingt, dem Haus etwas von seiner ursprünglichen Identität und Athmosphäre wiederzugeben, haben wir viel erreicht“.

Andrea Röder

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