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Homepage: Respekt für die Jüngsten

In den vergangenen 20 Jahren haben sich das Bild vom Kind und die Pädagogik grundlegend verändert. An der Fachhochschule Potsdam sieht man eine Trendwende hin zu den Bedürfnissen der Kinder

Sehr bestimmt schiebt der kleine Jonas seinen Teller mit dem Kartoffel-Brokkoli-Auflauf von sich. „Keinen Brokkli“, sagt er und verzieht ungehalten den Mund. Alle Versuche seiner Kita-Erzieherin, ihm das Gemüse doch noch schmackhaft zu machen, bleiben erfolglos. Letztlich handelt sie einen Kompromiss mit dem Dreijährigen aus. Sie sortiert „das Grüne“ aus, aber dafür isst Jonas die Kartoffeln.

Zu DDR-Zeiten wäre eine solche Situation in den meisten Kindergärten anders abgelaufen, sagt Potsdamer Kita-Leiterin Linda Lohmann (51). „Damals war man der Meinung, dass Kinder noch nicht selbst entscheiden können, was gut für sie ist. Deshalb hat man sie in aller Regel dazu gedrängt, den Teller leer zu essen.“ Dieser Zwang habe jedoch mitunter zur Folge gehabt, dass Kinder das ungeliebte Essen hinterher wieder erbrachen, so Lohmann.

Aus Erfahrungsberichten weiß man, dass viele Erzieherinnen dieses Erbrechen als Trotzhandlung des Kindes interpretiert haben. Es kam vor, dass sie die Kinder dann als erzieherische Maßnahme in die Ecke und damit vor den anderen Kindern bloß gestellt haben. Für sensible Kinder sei das schwer zu verkraften gewesen, sagt Lohmann, die auf mehr als 30 Jahre Berufserfahrung zurückblickt. „Zu DDR-Zeiten hat man Kinder noch ganz anders gesehen als heute“, erinnert sich Lohmann. „Sie hatten sich den Erwachsenen unterzuordnen und anzupassen. Dass sie nicht nur Pflichten, sondern auch Persönlichkeitsrechte haben, war eigentlich kein Thema.“

Natürlich hat es auch in der DDR Erzieherinnen gegeben, die in ihrer Gruppe auf die unterschiedlichen kindlichen Bedürfnisse eingegangen sind, aber offiziell wurde die gleichmachende Kollektiverziehung gepriesen. Agathe Israel, ehemalige Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, schreibt in ihrem Aufsatz „Kindheit in der DDR“ von 1997, dass der Staat sogar vor zu viel individueller Hinwendung warnte. Die Gefahr dieser so genannter Extravaganzen sah man wohl darin, dass die Kinder zu sehr verwöhnt worden wären. Das wäre nicht vereinbar gewesen mit dem Ziel, belastbare und disziplinierte „sozialistische Persönlichkeiten“ zu formen.

Häufig sei das Kleinkind in der DDR-Fachliteratur für Pädagogen mit einem leeren Tongefäß verglichen worden, welches erst mit Erziehung und Bildung gefüllt werden müsse, schreibt Hans-Dieter Schmidt, ehemaliger Professor für Psychologie an der Berliner Humboldt Universität in seinem Aufsatz über „Kindbildvarianten in der DDR“ von 1997. Dabei habe der Erwachsene immer die Rolle des überlegenen „Von-oben-herab-Erziehers“ eingenommen, weil er es ist, der dem Kind Dinge zeigt, die es noch nicht weiß oder kann.

Diese einseitige Fokussierung auf die Schwächen des Kindes hatte aber auch etwas Gutes: eine breit gefächerte Früherziehung, wie sie zum Teil heute wieder aktuell ist. Sieht man einmal davon ab, dass die Inhalte oft politisiert waren, wurde zum Beispiel viel für die kindliche Sprachentwicklung getan. Auf dem Bildungsprogramm stand auch das Kennenlernen der Natur und Verkehrserziehung sowie viel Sport und Musikunterricht. Problematisch sei dabei jedoch gewesen, dass der streng reglementierte Zeitrahmen wenig Raum für Spontaneität und spielerische Hingabe ließ, so Agathe Israel.

Heute sei die Pädagogik in vielen Punkten deutlich weiter, sagt Professor Christiane Ludwig-Körner, die an der Fachhochschule Potsdam den Bachelor-Studiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ leitet. Zwar spüre man diesen Erkenntnisgewinn noch nicht in allen Kindereinrichtungen, aber insgesamt werde mehr auf die Bedürfnisse von Kindern eingegangen als vor 20 Jahren.

Vor allem aber denken moderne Pädagogen positiver: „Während früher an den Defiziten der Kinder gearbeitet wurde, versucht man heute, sich besonders auf die Stärken des einzelnen Kindes zu konzentrieren“, erklärt Ludwig-Körner einen der Grundgedanken. Und diese Stärken liegen in der Persönlichkeit eines jeden Kindes begründet. Beobachtet man die kleine Mittagsrunde in der Potsdamer Kita „Sternchen“ zeigt sich die Unterschiedlichkeit der Kindercharaktere schon deutlich. So überlässt die kleine Luisa ihrer Freundin Chantal fürsorglich die eigene Tasse Früchtetee, „weil sie immer mehr Durst hat als ich“, wie Luisa erklärt. Und Jonas, froh den Brokkoli los zu sein, gefällt sich schon wieder ganz in der Rolle als Clown und gurgelt mit seinem Tee eine kleine Melodie, bis die Erzieherin ihn ermahnt, den Tee runter zu schlucken, bevor er sich daran verschluckt.

Aus Sicht der modernen Pädagogik sollte ein Erwachsener das Kind auf seinem Entwicklungsweg möglichst partnerschaftlich unterstützen, so Ludwig-Körner. Diese Einstellung sei jedoch nicht zu verwechseln mit der „Laisser-faire-Erziehung“ der 70er Jahre, bei denen Kinder sich selbst erziehen sollten. „Kinder brauchen klare Regeln, um sich orientieren zu können, aber diese sollten von den Erwachsenen nicht einfach übergestülpt werden. Wichtig sei es, den Kindern zu erklären, welcher Sinn dahinter steht“, so Ludwig-Körner. Vor allen Dingen gehe es darum, das Kind ernst zu nehmen und ihm mit Geduld und Respekt zu begegnen.

Früher war es zwar selbstverständlich, dass Kinder den Erwachsenen Respekt entgegen zu bringen haben. Umgekehrt war das jedoch vielen fremd, erzählt Kita-Leiterin Linda Lohmann, deren kleine Tochter in den 80er Jahren mehrmals aus dem Kindergarten weggelaufen war. Obwohl Lohmann selbst Erzieherin war, stand sie der Situation machtlos gegenüber: „Weil Eltern einfach kein Mitspracherecht hatten“. Einen Großteil ihrer Erziehungsverantwortung mussten Eltern an die staatlichen Erziehungseinrichtungen abgeben.

Auch heute sei das Verhältnis von Eltern und Erziehern noch nicht immer so offen wie es sein sollte, „weil beide Seiten Kritik nicht gern hören“, wie Lohmann sagt. Doch in einer wesentlichen Sache, derer sich der Franzose Francois Rabelais schon im 16. Jahrhundert sicher war, ist man sich heute einig: „Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entzündet werden will.“

Juliane Schoenherr

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