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Kultur: Begraben unter Blättern

Zum Tod von Maria Seidemann

„Chemotherapie, Rollstuhl, Phantomschmerz“. Bedrohliche Worte. Worte, mit denen Maria Seidemann Fenster nach innen öffnete. Bis zu ihrem Tod arbeitete sie an Grafiken, die ihre Worte rahmten, auffingen, weitertrieben. „Angst vor dem Winteranfang“ ist da zu lesen. Oder „Fern von allem, was ich liebe“. Lyrik als Einblick und Ausguck, wie sie in ihrer Ausstellung im Pomonatempel 2007 zu sehen war. Eine Ausstellung, die ihr neue Kraft gab, auch körperlich, und die doch nicht reichte, den Krebs zu besiegen.

Am 7. September ist die Schriftstellerin, Grafikerin und Historikerin Maria Seidemann im Kloster Lehnin gestorben. Auf ihrer letzten Grafik, die sie kurz vor ihrem Tod fertigstellte, ist sie selbst zu sehen: begraben unter einem Blätterhaufen. „Eine Arbeit ohne Worte“, wie ihr Mann Rainer Lindow sagt. Die Kunst hat seine Frau immer wieder motiviert, einen Neuanfang zu wagen. „Die Grafiken waren wie eine Selbsttherapie. Sie brachten sofort das Ergebnis und man musste nicht wie bei einem Buch lange auf das Erscheinen warten.“ Das ihr wohl wichtigste Buch ist unvollendet geblieben. Eine Biografie über Rosa Luxemburg. Maria Seidemann wollte ihr einen neuen Platz zuweisen, keinen vom DDR-Sozialismus zurecht gebogenen. Die Schriftstellerin war an der ganzen Frau interessiert, nicht nur an der Kämpferin der Arbeiterbewegung.

Maria Seidemann hatte es selbst schwer, ihren Platz zu finden. Sie rieb sich an den Unzulänglichkeiten der DDR, schrieb dagegen an. Dennoch wollte sie nie ausreisen. „Trotz allem nicht“. Das neue Deutschland wurde wohl nie das ihrige. „Ich habe den Aufbruch erlebt, der kurz und rauschhaft war und in ein besseres Leben führen sollte. Und jetzt beherrscht mich Trauer. Was soll das sein: ein besseres Leben? Was fange ich an mit der Freiheit, die meine Freunde wegsaugt?“, schrieb sie 1991 in der Erzählung „Die Reise nach Buxtehude“. Sie merkte, wie ihr „die Sprache im Mund verdorrt.“

Maria Seidemann wollte den Gedanken der Solidarität nicht aufgeben und baute das Literaturkollegium Potsdam auf. Doch das Echo hallte nicht in die von ihr gewünschte Richtung. Sie fühlte sich in die „rote Ecke“ gestellt. Dennoch vergrub sich die engagierte Frau nicht hinter ihren Büchern. Sie machte sich auf den Weg, ging abends ins Theater, wo sie mit fröhlichem Gesicht an der Garderobe die Mäntel entgegen nahm. Nicht nur, um für die dreiköpfige Familie ein Zubrot zu verdienen, sondern auch, um in Verbindung zu bleiben, mit den Menschen, mit dem Leben. Bis zu ihrem schweren Verkehrsunfall 2004, der auch die Diagnose Brustkrebs zu Tage förderte und sie kleinere Schritte gehen ließ.

Sie schrieb weiter: Kinderbücher, die ins alte Rom oder ins alte Ägypten führten. Sie kleidete alte Märchen in neue Gewänder. Und immer wieder ging es ihr um Menschen, deren Träume sich nicht erfüllten, deren Ideal mit der Wirklichkeit zusammenprallten. Für ihre poesievolle, hintergründige Literatur wurde die Potsdamerin vielfach geehrt, 1988 mit dem internationalen Hörspielpreis Terres des Hommes, 1991 mit dem Buxtehuder Bullen, 1998 mit dem Ehm-Welk-Literaturpreis.

Am 16. Oktober wäre Maria Seidemann 66 Jahre alt geworden. In ihrem letzten Lyrikband schrieb sie: „Meinen Schatten erschlägt die Nacht. Komm Schlaf sanfter Freund.“Heidi Jäger

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