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Kultur: Bei der Urania: Mit Goethe in den Orient

Zum 100. Todestag Goethes schrieb der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset einen anregenden Essay, worin er den professionellen Verehrern der Ikone zu Weimar eine „innere Biographie“ anstelle von drögen oder belobigenden Lebensbeschreibungen abverlangte.

Zum 100. Todestag Goethes schrieb der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset einen anregenden Essay, worin er den professionellen Verehrern der Ikone zu Weimar eine „innere Biographie“ anstelle von drögen oder belobigenden Lebensbeschreibungen abverlangte. Er warf dem Klassiker vor, sich allzu früh am Hofe Carl Augusts festgesetzt und damit seine eigentliche Bestimmung nicht erfüllt zu haben, wie es vergleichbare Begabungen taten.

Jochen Goltz, Präsident der Goethe-Gesellschaft und Direktor des einschlägigen Archivs zu Weimar, widersprach dieser produktiven Kritik bei seinem Urania-Vortrag zwar erwartungsgemäß, aber sein Vortrag über den „West-Östlichen Diwan“ bestätigte letztlich doch, was der Spanier meinte. Als „Begleitveranstaltung“ zur derzeitig in den Römischen Bädern gezeigten Ausstellung „Goethe und die Mark Brandenburg“ gedacht, war zwar viel über die späten Ausflüge des Dichters in die orientalische Welt zu hören, welche er ganz im Geiste vollzog, ein direkter Bezug zur hiesigen Landschaft ließ der einstündige Vortrag allerdings kaum erkennen. Nicht schlimm, was in Potsdam gesprochen wird, ist auch für Potsdam gemeint. Golz stellte Entstehung und Wirkung des „West-östlichen Diwan“ einerseits in den Kontext der damaligen Zeitereignisse, andererseits in die Vita des Weimarer Heroen, freilich so, dass es zwar viel zu hören, aber nicht viel zum Denken gab: Eher ein Vortrag für die Genießer, deren fünfzig das Vortragszentrum restlos ausfüllten.

Solange Deutschland unter Napoleon litt, war das Thema Orient für Goethe ein marginales. Zwar gibt es mit dem frühen „Mahomet“-Fragment und der Aufführung des titelgleichen Stückes von Voltaire am Hofe Carl Augusts 1791 bereits hoffnungsfrohe Ansätze, aber die Initialzündung erfolgte erst, als 1814 die poetischen Werke des Persers Hafis erschienen. Fortan dichtete er, daheim und auf Reisen, wie verrückt an seinem vielbewunderten Werk. Das erste Gedicht mit dem Titel „Hegire“ bezieht sich ausdrücklich auf die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina. Natürlich waren es Goethes Fluchten in neue, innere Welten, wodurch er sich selbst von der Klassik erlöste, um sich fortan mit heiterer Ergebenheit in den Weltlauf zu schicken. Fluchten wovon? Seine realen Reisen gingen zwischen 1814 und 1816 westwärts.

Der Bildungsbürger weiß natürlich von seiner Beziehung zu Marianne von Willemer, Gefährtin im Geiste und Mitautorin des 1820 erschienenen Bandes, was erst 1860 zutage kam. Er war Hatim, sie die Suleika, ein Traumpaar für das künftige Leben, denn einer realen Liebe soll Goethe im Bewusstsein seines Alters ja entsagt haben. Man weiß auch von anderen Lebenssummen, die Goethe in seiner Gedichtsammlung verbarg, etwa die unerkannte Farbenlehre.

Der Referent schilderte alle Umstände mit Präzision und Feuer, las einige Gedichte, um sie dem Publikum danach zu interpretieren, alles in seiner Ordnung, er scheute sich auch nicht, den Alten in Schutz zu nehmen, als sich kritische Stimmen zu seinem Verhalten gegenüber dem Leiden Mariannes regten: Wer wirft schon den ersten Stein? Die Ernte war eingefahren, die Weisheit gekommen, alles im Lot. Hatte Ortega nicht doch etwas recht, wenn er Goethe Erstarrung vorwarf und seine Interpreten ermahnte, gerade auf die inneren Differenzen im Leben des erklärten Weltbürgers zu achten? Mit dem „West-östlichen Diwan“ vollzog er spät ausgleichend nach, was er sich im wirklichen Leben versagte. Gerold Paul

Gerold Paul

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