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Kultur: „Das Ding vor“m Koffer“

„Die Bücherwürmer“ überzeugen als politisches Kabarett auch in ihrem 30. Jahr

„Die Bücherwürmer“ überzeugen als politisches Kabarett auch in ihrem 30. Jahr Von Gerold Paul „Achtung, Sicherheitshinweis! Achten Sie auf herumstehende Gepäckstücke! Sie könnten Massenvernichtungsmittel enthalten wie Zyankali oder ROT-GRÜNE Reformkonzepte.“ Mit dieser Megaphon-Warnung eröffnete das Potsdamer Amateurkabarett „Die Bücherwürmer“ in seinem Stammsitz, der Stadt- und Landesbibliothek, die (nota bene) 30. Spielzeit. Zur Vorpremiere gab es weder Reden noch Ehrungen, ohne Langzeit-Reprisen und Ostalgie ging es sofort zur Sache. Eile war auch geboten, denn auf der Bühne stand ein höchst verdächtiger Koffer, Kennzeichen „D“. Er war, in vielfältigen Wandlungen und Simulationen, Protagonist für die alerten Spieler in einem sehenswerten, fast rundum gelungenen Programm, das den oberen Saal zur Gänze mit Zuschauern füllte: „Das Ding vor“m Koffer“ beruht auf so frischen wie klugen Texten des RBB-Mannes Frank Rawel. In zehn Bildern erzählt er die Geschichten einer durchgehenden Personage, von Computer-Freak Big Apple (Ronald Gohr) und seiner „Süßen Maus“ (Kristina Tschesch), welche ihn ob dieser Leidenschaft verlassen will, von einem Millionär (Thomas Görner) mit rein kapitalistischen Ansichten, bis zum Infarkt in seine Penunze verliebt, indes Doreen Preisendanz neben eigenen Beiträgen voller Kraft auch noch die Umbaupausen als Putze gestaltet. Pianist Tobias Bracht erfand die Musik und machte selbst mit. Das spielfreudige Quartett sucht nicht die Spitzen der Hochkultur, es will Mobbing und Terror im Alltag zeigen, „kleine Sachen, die uns selbst angehen“, wie Gohr wissen ließ. Wer dergestalt aufs Brettl tritt, produziert Originale aus Nähe und Unmittelbarkeit. Politik muss nicht bemüht werden, weil sie sowieso da ist, Aktualität ergibt sich von selbst, wenn etwa der dänische Märchenerzähler und Jubilar Andersen (alias Görner) sich beim „Fliegenden Koffer“ über die Kinder von heute beschwert: Die Seejungfrau? Soll wiederkommen, wenn sie keine mehr ist! In der Szene „Relax“ ergründen die Urlauber Gertrud und Kalle das Verhältnis von gebuchtem Ruheanspruch und „angeschwemmten Boat-People“ an ihrem Strand. „Lieber Hartz V als Bush III“ bringt Innen- und Weltpolitik zusammen, Sozialhilfeempfänger werden zu „Hartzonauten“, welche die Bürokratie am liebsten auf dem Neptun ansiedeln möchte. Nimmt man seinen sozialen Abstieg als Ich-AG denn nicht „selbstbestimmt“ in die Hand? Nicht jede Szene ist perfekt organisiert, alle aber erzählen von Ensemblegeist, von gesellschaftlichem Engagement. Die „Bücherwürmer“ bekennen sich zu ihrem Amateurstatus. Was sie ostentativ als „politisches Kabarett“ landauf, landab unter die Leute bringen, ist glaubhaft, unmittelbar, sogar frech. Nirgends ist Wurmstichigkeit. In „Trends“, zweifellos der Höhepunkt im abendfüllenden Satireprogramm, wird der Koffer geöffnet. Süffisant präsentiert Elvira Habelstädt vom „Bayerischen Kampfmittelversand“ Gegenstände für den alltäglichen Terror daheim, schließlich gehe „alle Gewalt vom Volke aus“: Anthrax-Päckchen für böse Schwiegermütter, Handgranaten für unbotmäßige Arbeitgeber, Dynamitgürtel – nur für Fortgeschrittene. Terror schafft Arbeitsplätze! Im letzten Teil gerät alles durcheinander, keiner weiß noch, wer Simulation, Hologramm oder menschgeboren ist. Zu allem Überfluss geht“s auch dem Publikum an den Kragen: Die Bierflaschen aus der Pause nach Fingerabdrücken untersucht, jeder Nieser genetisch verwertet – wer in dieses Kabarett kam, wird fortan total vom Staat überwacht. Nur weiter so.

Gerold Paul

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