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Kultur: Das Erinnern danach

Stewart O“Nan mit seinem Roman „Halloween“ im Waschhaus / Gespräch mit Sigrid Löffler

Stewart O“Nan mit seinem Roman „Halloween“ im Waschhaus / Gespräch mit Sigrid Löffler Von Dirk Becker Manchmal reicht der Blick in die Zeitung, denn noch immer schreibt das Leben die merkwürdigsten Geschichten. So las der amerikanische Schriftsteller Stewart O“Nan einen Artikel über fünf Jugendliche, die in ihrem Auto verunglückt waren. Nur zwei überlebten. Genau ein Jahr danach setzten sich die beiden in einen Jeep und fuhren all die Orte ihrer Heimatstadt ab, die sie mit ihren toten Freunden immer besucht hatten. Unterwegs riefen sie andere Freunde an, um sich zu verabschieden. Dann nahmen sie den selben Weg wie vor einem Jahr und rasten gegen den Baum, an dem ihre drei Freunde den Tod fanden. Wenig später ließ die Stadtverwaltung diesen Baum abholzen, um Nachahmungstaten zu verhindern. An den darauf folgenden Wochenenden, wie Stewart O“Nan am Dienstag im Waschhaus den knapp 150 Gästen berichtete, las er immer wieder Berichte über derartige Unfälle von Jugendlichen in anderen Kleinstädten. „Bizarr“, nannte er diese Ereignisse, die durch die regelmäßige Berichterstattung für ihn fast schon die Form eines Fortsetzungsromans, eines „movie of the week“ annahmen. Jede Kleinstadt, so O“Nan, erlebt ihre Katastrophen. Und ihn faszinierte die Frage, wie die Betroffenen damit umgehen, wenn in ihre überschaubare und scheinbar heile Welt das Unerwartete mit all seiner Härte einschlägt. In seinem Roman „Halloween“ hat O“Nan das Thema aufgegriffen. Fünf Jugendliche, ein Unfall in der Halloweennacht, nur zwei überleben. Ein Jahr später scheint alles darauf hinaus zu laufen, dass die beiden den Jahrestag des Unglücks nicht überleben werden. In Avon, Connecticut, lässt O“Nan die Geschichte spielen. In der Kleinstadt, in der er seit Jahren lebt und die er als die „wohl langweiligste“ bezeichnete. In „Halloween“ sprechen die Geister der Toten. Sie sind die Erinnerungen, die Trauer, die Auseinandersetzung mit dem Unfall, der die Zurückgebliebenen sich stellen oder versuchen, zu entfliehen. Unaufhaltsam scheint sich die Katastrophe an diesem Halloween anzubahnen. Mit den Geistern umkreist O“Nan die Kleinstadt Avon am ersten Jahrestag des Unfalls. Er umkreist Tim, einen der Überlebenden, Brooks, den Polizisten, der das Unfallauto damals verfolgte und die Mutter von Kyle, dem zweiten Überlebenden, der so schwere Kopfverletzungen davontrug, dass er auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes dahinvegetiert. O“Nan zeigt ihre Selbstzweifel, ihren Selbsthass, ihre vergeblichen Versuche Ruhe und Normalität zu finden, wenn sie durch die Straßen Avons fahren, durch dieses Koordinatensystem fester, unveränderter Punkte, das Ordnung suggeriert. Doch sie sind wie die Geister der Toten. Zwischenwesen, die nicht mehr zurück können in ihr altes, scheinbar normales Leben. Zusammen mit dem Schauspieler und Synchronsprecher Christian Brückner las Stewart O“Nan Ausschnitte aus „Halloween“. Acht Romane hat O“Nan in den vergangenen zehn Jahren geschrieben. Und, wie Sigrid Löffler, Herausgeberin der Zeitschrift „Literaturen“, im anschließenden Gespräch hervorhob, ist der Tod und der Umgang mit Trauer und Erinnerung, ein Schwerpunkt seiner schriftstellerischen Arbeit. Ob in „Speed Queen“, „Ganz alltägliche Leute“ oder dem, leider immer noch nicht ins Deutsche übersetzte „The Names of the Dead“, Stewart O“Nan lässt immer wieder die Toten sprechen. Doch wer nun einen morbiden Charakter in dem Autor erwartete, der wurde enttäuscht. Mit trockenem Humor und schlagfertig, so gab sich O“Nan bei der, vom Brandenburgischen Literaturbüro, dem Waschhaus und dem Literaturladen Wist präsentierten Veranstaltung. Das bekam auch Sigrid Löffler zu spüren, als sie bedeutungsschwanger nach den vielen Toten in seinen Büchern fragte. Er schreibe Gespenstergeschichten, da sei er zwangsläufig auf Tote angewiesen, so seine entwaffnende Antwort. Durch seine Begeisterung am Lesen kam der ehemalige Flugzeugingenieur zum Schreiben. Denn, Saul Bellow zitierend, Schreiben sei nur die Fortführung des Lesens mit anderen Mitteln. O“Nans Geschichten entstehen aus Charakteren, die ihn faszinieren. Faszinieren, weil er sie anfangs nicht versteht, aber verstehen will. Und wenn dann der Tod in seine Geschichten tritt, dann ist es weniger das Ereignis selbst, das er thematisiert, sondern das Danach. Und fast immer gelingt es Stewart O“Nan dieses Danach katastrophaler, grausamer und aussichtsloser als die eigentliche Katastrophe darzustellen.

Dirk Becker

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