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Kultur: Der Sohn des Verderbens

Antisemitisch oder nicht? Wissenschaftler streiten um Inhalt des restaurierten Bleiglasfensters der Frankfurter Marienkirche

Mit falschen Wundern, Gold und Feuerzauber sucht er, die Menschen vom Glauben abzubringen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ruhte er im Dunkeln, aber nun tritt der Menschenverführer wieder auf den Plan – prachtvoll und befremdend zugleich. Der böse Zauberer ist eine Gestalt auf dem in der Kunstgeschichte einzigartigen Antichrist-Fenster, einem der berühmten gotischen Chorfenster der Frankfurter Marienkirche, das seit kurzem vollständig restauriert ist. Von diesem Sonntag an ist dieser Teil der zurückgewonnenen Beutekunst erstmals komplett zu sehen, bevor es in diesem Juni nach Jahrzehnten wieder seinen Platz im Chor der mittelalterlichen Kirche einnimmt.

Der „Sohn des Verderbens“ aus der Bibel ist eine schillernde Gestalt – zwar böse, doch zugleich ein Vorbote Christi. Noch auf dem Arm der Hebamme zeichnet ihn im Frankfurter Fenster der gehörnte Teufel mit einem falschen Heiligenschein aus. Seine Geschichte wurde im 14. Jahrhundert in der Oderstadt in Glas gebannt.

Vor allem im Mittelalter sahen die Menschen den Antichrist als den Widersacher Gottes schlechthin. Roms Kaiser Nero, den Prophet Mohammed, Päpste – sie alle hielt man schon für den Antichristen. Denn er ist sehr wandlungsfähig. Auf dem Fenster tritt der Verbündete des Teufels als Wanderprediger auf, als Lehrmeister im Tempel oder als gütiger Geber reicher Gaben.

Eine so umfangreiche Darstellung der Legende auf einem Kirchenfenster sei einmalig, sagt der Potsdamer Kunsthistoriker Frank Martin. Martin leitet die Forschungsstelle für mittelalterliche Glasmalerei (CVMA) bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

In 32 Szenen erzählt die farbenfrohe Bilderbibel die Geschichte des Antichristen von der Geburt bis zu seinem Sturz. Dieser Schatz schien lange verloren. Im Zweiten Weltkrieg 1943 eilig in Kisten gepackt und im Neuen Palais im Potsdamer Park Sanssouci versteckt, gerieten die drei Fenster bei Kriegsende in die Hände der Sieger. Sowjetische Kulturoffiziere ließen die Kunstwerke nach St. Petersburg bringen und im Keller der Eremitage verstecken. Erst nach langen Verhandlungen kam die Beutekunst 2002 zurück. Seitdem arbeitet Restauratorin Sandra Meinung an den Fenstern, zuerst am Christus-Fenster, das im Mai 2005 wieder eingesetzt wurde. 17 von 38 Feldern des Antichrist-Fensters hat sie restauriert. „Es ist das größte, was ich in diesem Beruf bislang gemacht habe“, sagt Meinung. Inzwischen läuft das dritte Projekt, das Schöpfungsfenster, das auch im Juni fertig sein soll. Meinungs Werkzeuge – Pinsel, Skalpell, Lötkolben – sind mit im Museum Junge Kunst ausgestellt. Die Schau führt auch in die biblische Geschichte ein. Und sie ordnet in den Kontext der Entstehungszeit ein, denn hier suchen Forscher die Ursache für die ungewöhnliche Betonung des Antichristen in dem Zyklus. Das Fenster habe antisemitische Tendenzen, erklärt Martin. Vielerorts seien Juden im 14. Jahrhundert zu Sündenböcken für die Pest-Epidemien gestempelt worden. Der Frankfurter Museologe Werner Mandel widerspricht: „Im 14. Jahrhundert gab es in Frankfurt keine Judenverfolgung.“ Die Hanse- und Handelsstadt sei außerdem nicht ohne das Kapital von Juden ausgekommen. Mandel spricht von einem gedeihlichen Miteinander. Er verweist auch auf eine Szene im Antichrist-Fenster, wo ein Jude gemeinsam mit Christen vor einem Altar betet. Davon können sich Besucher bei der Schau selbst ein Bild machen, denn die 32 Szenen aus der Antichrist-Legende sind auf Augenhöhe zu betrachten. Später in der Marienkirche müssen Kunstfreunde den Kopf in den Nacken legen, um auf dem acht Meter hohen Fenster alles zu sehen.Burkhard Fraune

Burkhard Fraune

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