zum Hauptinhalt

Kultur: Erarbeitete Worte

Lothar Bisky las aus seinen Memoiren

Lothar Bisky las aus seinen Memoiren Auch wenn seine Lebenserinnerungen den Titel „So viele Träume“ tragen – eine Referenz an seinen Freund, den verstorbenen Regisseur Heiner Carow – als Träumer, Fantast und Fabulierer präsentierte sich Lothar Bisky am Montag zur „Potsdam Premiere“ seiner Memoiren nicht. Das, was er las, und vor allem wie er es las, klang vor nicht mehr als 60 Gästen im Filmmuseum knorrig, schnörkellos und als ob jedes Wort beinahe kämpferisch einer der Bescheidenheit verpflichteten Wortknappheit abgerungen werden musste. Nein, dem PDS-Bundesvorsitzenden Bisky, Vizepräsident des Brandenburger Landtages, ehemals Jugendforscher, Kulturtheoretiker und HFF-Rektor in den turbulenten Wendejahren, ist die Gabe der überbordenden Rhetorik nicht, wie seinem Weggefährten Gregor Gysi, in die Wiege gelegt worden. Das Wort musste sich Bisky, der als bettelarmes Flüchtlingskind in Schleswig-Holstein aufwuchs, erarbeiten, wie beinahe alles in seinem Leben. Die Kindheit in der Nachkriegszeit ist geprägt vom Mangel des ländlichen Lebens. „Von meinem Vater bekam ich ein Lamm – aber Bücher nie.“ Früh spürte der junge Lothar das Gefühl, als Flüchtling und damit „fremdes Pack“ ausgegrenzt zu werden. Die Lektüre des Kommunistischen Manifests bewegte ihn wie kein zweites Buch. Bisky träumte als Oberschüler bereits von Chancengleichheit, die er für sich so im Westen nicht sah. „Ich hasste den Mief der Adenauerära.“ Überzeugung und eine Portion Abenteuerlust ließen ihn 1959 von der Familie Abschied nehmen und den Weg durch den Stacheldraht in die DDR gehen, der besseren Bildungschancen wegen. Bisky hatte sich zunächst in der Produktion, in einem Teerverarbeitungswerk in Altenburg, zu bewähren, macht das Abitur und studierte schließlich in Berlin. Bisky liest aus seinem Leben, als ob er aus einer Akte vorträgt, in einer Art Singsang, der jeweils beim Umblättern, um in eine neue Zeile zu finden, ein wenig die Worte dehnt. An so einer Stelle fügt er beiläufig ein: „Inzwischen ereignete sich auch Privates. Ich lernte eine Frau kennen, sie heißt Almuth, mit der ich heute noch verheiratet bin.“ Wer, wie Bisky, redlich Rechenschaft über sein Leben und seine Politik ablegen will, der findet nicht viel Platz für humorige Nuancen. Die in dieser Hinsicht stärkste Szene umschreibt Biskys Einsatz als Erntehelfer. Sein Eifer auf dem Kartoffelfeld war unschlagbar, Bisky heimste etliche Kreis- und Bezirksprämien ein und wird schließlich vom Landwirtschaftsminister als Aktivist mit der Artur-Becker-Medaille geehrt. Die stolze Summe der Prämie, damals unvorstellbare 2000 Mark, dienten zur Anschaffung einer Schlafcouch. Die Schlüsselszene, die für Biskys spätere politische Karriere entscheidend war, spielte sich an der HFF in Babelsberg ab. Bisky stellte seinen Studenten die Vertrauensfrage, als es darum ging, die Turbulenzen in der Wendezeit in Dresden, Berlin und Leipzig auch ohne Genehmigung von oben zu filmen. Die Studenten folgten damals dieser mutigen Linie in einer Wahl, er war demokratisch legitimiert und damit, wie sein Student Andreas Dresen sagte, der „Rektor der Studenten“. Die Lesung endete wohl ganz im Sinne von Lothar Bisky nicht mit einem Podiumsgespräch, sondern mit einem Glas Wein, zu dem er sich den zahlreichen Anfragen im Zwiegespräch stellen konnte. Bescheiden, aufrichtig, leise. Jemand, der seine Herkunft nie vergessen hat. Er blieb bis zum Schluss. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false