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Kultur: „Heimlich lesen“

Neues ZZF-Projekt auch mit vergnüglichen Seiten

In der Literaturgesellschaft DDR war „heimlich lesen“ ein Volkssport. Mit allen nur möglichen Tricks versuchten die Informationshungrigen an Schriften heranzukommen, die ihnen das Regime vorenthielt. Westverwandte versteckten Havemann und Solschenizyn zwischen Schokolade und Kaffee, und auch das Durchstechen der Pakete mit großen Stricknadeln ließ den Zoll nicht immer fündig werden. Im Kofferraum der Westbesucher gelangte so manche Auto- und Reisezeitschrift unentdeckt zur ostdeutschen Verwandtschaft, und Oma, die schon in den Westen durfte, nähte in ihren Mantel Klatschmagazine ein.

„Wenn wir sie auf dem Bahnhof in die Arme nahmen, knisterte sie überall“, erinnert sich ein Neffe. Er ist einer jener „heimlich Lesenden“, die angehende Medienwissenschaftler der Universität Leipzig für einen Film befragt haben.

Der Streifen „Gift für die Republik“ wurde während der Veranstaltungen zum zehnjährigen Bestehen des Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) vorgestellt und ist Teil eines neuen Projekts, das folgerichtig auch „Heimlich lesen“ heißt. Dr. Siegfried Lokatis, der seit 1993 gemeinsam mit seiner Kollegin Dr. Simone Brack zur DDR-Literatur forscht, nähert sich damit diesem großen Thema nun auch von der Seite der Leser. Bisher waren von dem Historikerduo u.a. bereits Arbeiten über die Zeitschriften der DDR („Zwischen Mosaik und Einheit“), den Verlag Volk und Welt („Fenster zur Welt“), zu Zensur und literarischen Öffentlichkeiten in der DDR („Jedes Buch ein Abenteuer“) und über den innerdeutschen Literaturaustauch („Das Loch in der Mauer“) erschienen.

Das neue Projekt wird der Jagd der DDR-Bürger nach verbotenen oder unerwünschten Schriften in all ihren Methoden nachspüren. Dazu gehört nicht allein das Einschmuggeln aus dem Westen. Entgegen in Massenauflage herausgebrachter, erzieherisch angelegter sozialistischer Literatur erschienen Werke mit kritischer Tendenz nur in geringer Stückzahl. Für unerwünschte Bücher, etwa Christa Wolffs „Kassandra“, gab es verschwindend kleine Alibiauflagen, um devisenträchtige Lizenzen an Westverlage vergeben zu können. Es bedurfte großer Findigkeit der Leser in der DDR, um an diese Titel heranzukommen.

Auch die „Giftschränke“ der Bibliotheken waren vor ihnen nicht sicher. Wer eine Bescheinigung seiner Arbeitsstätte vorlegen konnte, die Literatur für wissenschaftliche Zwecke zu benötigen, dem öffneten sich die Türen. Selbst in der SED, sagt Lokatis, gab es eine „Reformöffentlichkeit“, die sich erfolgreich um den Zugang zu den weggeschlossenen Beständen des Instituts für Marxismus-Leninismus (beispielsweise Trotzkis Schriften) bemühte.

Das Projekt verspricht viele spannende Entdeckungen, bis hin zum Schicksal einzelner Buchtitel. Dazu sollen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die „Heimlichleser“ selbst beitragen. Deshalb sucht Siegfried Lokatis Zeitzeugen aus dem Berlin-Potsdamer Raum, die sich im ZZF am Neuen Markt 1 melden können. Einige von ihnen sollen sich mit Beiträgen an der wissenschaftlichen Konferenz „Heimlich lesen“ beteiligen, die das Zentrum vorbereitet. Sie findet nächstes Frühjahr in Potsdam statt. Erhart Hohenstein

Erhart Hohenstein

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