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Kultur: „Luxus der Leere“

Mittwochsgesellschaft der Böll-Stiftung mit Wolfgang Kil

Mittwochsgesellschaft der Böll-Stiftung mit Wolfgang Kil Der Berliner Architekturkritiker und Publizist Wolfgang Kil hat eine neue Streitschrift geschrieben. Unter dem Titel „Luxus der Leere“ erscheint sie im Mai dieses Jahres bei Müller und Busman. Die Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg lud zur ersten Mittwochsgesellschaft des Jahres Wolfgang Kil und die Potsdamer Öffentlichkeit ins Wiener Café ein. Nachdem die „Schrumpfungsproblematik“ lange als „Verrat an zukunftsgerichteten Forschungsaufträgen“ in wissenschaftlichen Schriften tabuisiert wurde, hätte sie inzwischen eine breite Öffentlichkeit erhalten. An diesem Prozess ist Kil maßgeblich beteiligt und gehört augenblicklich zu den vielgefragten Experten. Denn unübersehbar kann der Zustand der Städte Auskunft über Prozesse geben, deren verbale Deutung sich noch weitestgehend im Anfang befindet: Eine Million Wohnungen stehen im Osten Deutschlands leer. Allein in Berlin sind es etwa 100000. Die Leerstandsquoten liegen zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Alarmierende  Spitzenreiter seien Leipzig (35%), Görlitz-Altstadt (48%), Stendal (42%), Halle-Altstadt (28%).Wenn es zu keiner Veränderung der politischen Rahmenbedingungen und Umsteuerungen käme, würde der Leerstand in den nächsten 20 Jahren auf zwei Millionen Wohnungen anwachsen. Nach den Ursachen der „Unwirtlichkeit der Städte“ befragt, verwies Kil zunächst auf die Monoindustriealisierung und die planmäßige Schaffung von urbanen Ballungsräumen. Sie wäre in DDR-Zeiten besonders in traditionell ärmlichen und dünn besiedelten Regionen wie Schwedt, Neubrandenburg, Stendal, Hoyerswerda und Eisenhüttenstadt durch Industrieinvestitionen und hoch industrialisierte Agrarwirtschaft aus strukturpolitischen Gründen betrieben worden. Ihre Schattenseiten wurden damals selten thematisiert, häufig fanden sie Eingang in der Literatur des „Bitterfelder Weges“ („Franziska Linkerhand“ von Brigitte Reimann). Die massive  Strukturförderung zu DDR-Zeiten einerseits und die rasante Deindustrialisierung und Marginalisierung der Landwirtschaft nach 1990 andererseits haben zu extremer Abwanderung der jungen, risikofreudigen und mobilen Arbeitnehmer geführt. Das Zurückbleiben der vorwiegend älteren Bevölkerung in diesen Regionen  zeige demografische Konsequenzen. Die verminderte Kaufkraft befördere den schrittweisen Rückbau der Infrastruktur. Ein nicht endender Teufelskreis! Sichtbar werdend an verlassenen Häusern, leeren Dörfern, leeren Quartieren, Geisterstädten. Wie das Packhofviertel im brandenburgischen Wittenberge, dessen Horrorszenario inzwischen Filmgesellschaften  für Kriegsfilme diente. Kil verwies darauf, dass die Schrumpfung als Symptom postindustrieller Wandlung kein ostdeutsches Phänomen sei. Als Krise der Montanindustrie gäbe es dazu schon viele „Vorbilder“ in England, Ostfrankreich, Belgien und in den USA. Neu sei allerdings die erreichte Bandbreite der „Überflüssigkeit“ der Städte und Wohnquartiere, die sich durch die völlig unvorbereitet Zurdispositionstellung eines gesamten Erwerbsspektrums einer modernen Industriegesellschaft ereignet habe. Fragen nach Rückbaukonzepten wurden gestellt. Kil verwies darauf, dass es Rückbaukonzepte zunächst nur für Plattenbauten gäbe. Unterschiedliche Varianten wären bisher realisiert worden: die „Entlichtung“, der flächenhafte Rückbau und der perforierte Rückbau. Die Kosten des Rückbaus überstiegen bisher das Dreifache der geplanten Summen. Als unbezahlbares Projekt erwies sich der Umbau der Plattenbauten in Stadtvillen. Erstmals in Hoyerswerda praktiziert. So wäre das „Stehenlassen“ die augenblicklich häufigere Variante. Künstler in Leipzig und Halle hätten leerstehende Häuser in Kunstprojekten integriert. Kils Plädoyer: „Da wir kaum wissen können, wohin die Reise der nachindustriellen Gesellschaft geht, sollten wir alle Kraft auf einen möglichst schmerzarmen Übergang konzentrieren. Besonderes Augenmerk sollte dabei den überflüssigen Städten und Landschaften gelten, die im Prozess der Globalisierung als ökonomisch irrelevante Räume aussortiert werden.“                Barbara Wiesener

Barbara Wiesener

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