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Kultur: Neue Lügen braucht das Land

Tocotronic spielen vor Gewinnern in den Fritz-Studios

Tocotronic spielen vor Gewinnern in den Fritz-Studios Vor zehn Jahren lümmelten drei spacke Typen auf ausrangierten Fliegersitzen und verkündeten auf dem Cover ihres Debütalbums: „Digital ist besser“. „Jede unserer Handbewegungen / Hat einen besonderen Sinn / Weil wir eine Bewegung sind" posaunten Tocotronic in „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Radio Fritz hat die Band zu einem Studiokonzert eingeladen, wodurch ausgewählte Fritz-Gewinner in den exklusiven Genuss einer Live-Hörprobe des noch frischen Albums „Pure Vernunft darf niemals siegen“ kamen. Im Tagesprogramm von Radio Fritz mussten sich die Bewerber ihre Karten durch Textsicherheit erspielen. So war abgesichert, dass die Songs der Hamburger am Abend aus Dutzenden Kehlen mitgeschmettert wurden. Die Kordhosen und Trainingsjacken der Anfangszeit sind längst edlen Stoffhosen gewichen und trotzdem bleiben sie die ewige Schülerband aus dem Norden. Ihre Fans haben alles mitgemacht: die rotzig-trotzigen ersten Jahre, ihren Elektronik-Ausflug auf „K.O.O.K.“ und die neuerliche Hinwendung zu, für Tocotronic-Verhältnisse geradezu spiritueller Tiefe in den Texten. Selbst das gewohnte Bandgefüge wurde 2004 auch offiziell um den langjährigen Tourgitarristen Rick McPhail erweitert. Vieles hat sich verändert, im Prinzip aber überhaupt nichts. In den Fritz-Studios schrammelten Tocotronic munter vor den begeisterten Fans. Sänger Dirk von Lowtzow nimmt mit rauh-brüchiger Stimme Töne ins Visier, die nur selten getroffen werden. Bassist Jan Müller zupft selbstvergessen den Vier-Saiter und Arne Zank scheint hinter seinem Schlagzeug in gänzlich anderen Sphären zu treiben. Neu-Einkauf McPhail zersetzt die Songs mit Einzelton-Soli, die versuchen gegen das Getöse, klirrende Akzente zu setzen. Die Band „Kante“, Wegbegleiter der „Hamburger Schule“, beschrieben es in einem Song treffend: „Wir haben Gitarren, das Klavier und den Bass, wir haben das Schlagzeug, den Gesang und all das ist in guten Momenten, für eine Weile: mehr als die Summe der einzelnen Teile“. Musikalisch treten Tocotronic trotz vereinzelter Ausbrüche seit jeher auf der Stelle. Aber ihr sympathisches Understatement und die auf Schlagwörter hinauslaufenden Texte, lösen ein mitreißendes Kopf- und Bauchgefühl aus. Texte perfekt für Shirt-Aufdrucke und auch perfekt, um aus den Kehlen der Fritz-Gewinner lauthals mitgesungen zu werden: „Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen. Die unsere Schönheit uns erhalten, uns aber tief im Inneren spalten“. Unvergänglicher Protest zeitloser Jugendhelden. Christoph Henkel

Christoph Henkel

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